Lügentexte, Lügentexte!

Was haben Journalisten mit Schriftstellern gemein? Sie lügen! brüllen einige los. Fest steht: Sie sagen nie die ganze Wahrheit. Das hat aber nichts mit Weltanschauung zu tun, sondern mit dem Schreiben an sich.

Manchmal stößt man dort auf Literatur, wo man sie gar nicht vermutet hätte, wie Kinder unter Steinen auf Käfer. Zum Beispiel bei den Deutschen Wirtschafts Nachrichten, einer Seite, die keinen besonders seriösen Ruf zu verlieren hat. Viele Einträge weisen überzogen auf angeblich dramatische Gefahren hin, aber weil Menschen eben gerne Drama haben, wird das auf Facebook geteilt wie blöd. Ein Artikel widmet sich dem deutschen Finanzminister, Wolfgang Schäuble. Der hat die Sparguthaben der Deutschen verschleudert, und zwar indem er einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichte. Man muss jetzt einen Moment ausklammern, dass man das natürlich anzweifeln könnte, sogar wenn man kein Experte ist. Ich möchte auf etwas anderes hinaus. Zitat:

„Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten haben bei Kreditentscheidern, Anlageberatern und Bankern nachgefragt, wie sie – und vor allem die für die Kredite entscheidenden Rating-Agenturen die öffentliche Bekanntmachung des „Bundesministers der Finanzen“ lesen. Die Antwort, die wir von einem Banker bekommen haben, war eindeutig“,

so steht es da. Leider ist nun nicht alles so eindeutig, wie es scheint. (Das ist es ja selten.) Denn die Stelle wirft tausend neue Fragen auf: Warum zitiert der Artikel nur aus einer Antwort, wo die DWN doch so viele Experten gefragt haben? Wäre es nicht objektiver, einen schönen Querschnitt zu liefern? Wenn die Fakten eindeutig sind – was könnte es denn schaden? Wie lauten die anderen Antworten? Warum wurden sie weggelassen? Gab es nur eine Antwort? Gab es nur eine Antwort mit diesem Inhalt? Warum wird die Quelle nicht namentlich benannt, nicht einmal grob umrissen, was für ein „Banker“ das eigentlich ist? Und und und… Die DWN verlangen von ihren Lesern schon einen recht großen Vertrauensvorschuss.

Aber an sich ist das auch ganz normal etwas, was man beim Schreiben tun muss: Man schreibt etwas, lässt anderes weg, bringt alles in eine gewisse Reihenfolge, man bewertet. Schreiben bedeutet, Entscheidungen zu treffen. Der Journalist hat ja nur eine Zeitungsseite Platz, die Schriftstellerin will nicht, dass ihr Roman ausufert. Niemand kann alles beschreiben, unabhängig davon, ob die Handlung ausgedacht ist oder jemand sie in der echten Welt beobachtet hat. Darum erkennt man Schreibende oft auch an zerkauten Fingernägeln, an einem irren Kichern oder einem merkwürdig unsteten Blick.

Neben dem Platzproblem gibt es noch das mit der Gleichzeitigkeit. Vieles in der Welt passiert gleichzeitig. Text dagegen funktioniert linear, Satz nach Satz, Wort folgt auf Wort. Es gibt immer eine Hierarchie, allein schon chronologisch. Sitzen zwei Politiker auf einem Podium, muss ich trotzdem einen zuerst nennen. Und dann die gleichzeitige Anwesenheit mit Worten auszudrücken, obwohl beim Lesen auch noch Zeit vergeht – das ist unmöglich. Dieses Problem beschäftigt Künstler schon seit Jahrhunderten, gelöst hat es bisher niemand.

Wie eine Filmkamera zeigen Schreibende nur einen Ausschnitt, und manchmal ist es gerade der Bereich hinter der Kamera, der interessant wäre. Alles, was geschrieben wird, wirft die Frage auf: Warum das, und nicht etwas anderes? Jedes Wort schafft Gesprächsbedarf, in jedem Wort wuchern Assoziationen wie Bakterienkulturen. Die Wirklichkeit ist nicht Text, Text ist nicht die Wirklichkeit. Es kommt immer zu Übertragungsverlusten. Journalisten versuchen, das Problem klein zu halten, auch wenn es nie verschwindet. Dann versehen sie es mit einem Warnschild: Sie sagen, warum sie mit jemandem sprechen, warum die Kamera etwas zeigt, warum man da ist, wo man ist. Schriftsteller und die Autoren der DWN haben dieses Problem auch, aber sie spielen damit. Künstler tun es mit Gewinn, die DWN auf Kosten der Seriosität.

Bild: Journalist von Esther Vargas (cc by sa 2.0)

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