Wann hat man den Nobelpreis verdient?

Ein großer Vorteil des Nobelpreises ist, dass er uns Entscheidungen abnimmt und Fragen beantwortet. Was ist große, gute Literatur? Welche Autorin muss man kennen? Welche Romane werden die Zeit überdauern? Mag ja sein, dass das Nobelpreis-Komitee das nicht erkennt, sondern selbst Fakten schafft. Und trotzdem: Es gibt einfach viel zu viel, den Überblick zu behalten ist unmöglich. Schön, dass das Komitee uns diese Arbeit abnimmt.

Aber so einfach ist es nicht. Tut es das? Ob die Richtigen die Preise kriegen, darüber ist man sich meistens uneinig. Jüngstes Beispiel: Swetlana Alexijewitsch, die Siegerin dieses Jahr. Das Problem: Sie hat keine Romane geschrieben, sondern anderes. Interviews, Collagen, Reportagen, viel journalistische Arbeit. Hat sie dafür einen Literaturpreis verdient, den wichtigsten gar? Manche sagen ja, manche sagen nein. Einen Überblick über die Diskussion gibt zum Beispiel Perlentaucher hier.

Es ist interessant, sich die Argumente jeweils genauer anzusehen. Die erzählen nämlich mehr von dem, der sie ausspricht, als dass sie die Frage – Literatur oder nicht? – beantworten würden. Welche Vorstellung hat jemand von Literatur, welche Kriterien müssen erfüllt sein, wann ist etwas große Kunst, wann nur Reportage?

Schauen wir uns Iris Radischs Meinung an, Redakteurin für Literatur bei der ZEIT. In der Ausgabe 42/2015 spricht sie sich gegen Alexijewitsch als Nobelpreisträgerin aus. Die habe nur Dokumente, Protokolle, Zeitzeugenberichte arrangiert. Das Ergebnisse seien auch „hochbedeutsame[…] Zeugnisse[…] der Sozial- und Zeitgeschichte“. Aber:

„Gemessen an den Kriterien des klassischen Literaturbegriffs, der darauf besteht, dass es sich nur dann um einen literarischen Text handelt, wenn eine weltverwandelnde und genuin schöpferische Leistung vorliegt und Einbildungskraft, Fantasie und Imagination zum Einsatz kommen, ist diese Preisvergabe jedoch reiner Unfug.“

Wir halten fest: weltverwandelnde, genuin schöpferische Leistung, Einsatz von Einbildungskraft, Fantasie und Imagination – fertig ist die Literatur.

Aber wer kann sagen, was die Welt verwandelt, sie verzaubert? Können politische Reportagen das nicht auch? Und haben nicht gerade Journalisten manchmal pfiffige Ideen und beschreiben fantasievoll und voller Einbildungskraft? Und gibt es nicht auch collagierte Romane? Besteht nicht zum Beispiel Frank Witzels Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, immerhin gerade mit dem Deutschen Buchpreis augezeichnet, auch zu einem großen Teil aus Collagen und verschiedenen Textsorten?

Man sollte Materialcollagen nicht literarische Meisterwerke nennen, schreibt Radisch. Ansonsten verzichte man auf alle Kriterien für große Literatur. Sich an solche zu halten, ist aber auch gar nicht Aufgabe des Nobelpreis-Komitees ist. Das hält sich an Alfred Nobel, und der hat das so nicht aufgeschrieben. Den Preis kriegt, wer „in the literary field“ gearbeitet und dabei „the most outstanding work in an ideal direction“ geschaffen hatte. Was dieses „field“ ist und was die „ideal direction“ – puh, gute Frage. „Tatsächlich erscheint die Geschichte des Literaturpreises als eine Reihe von Versuchen, ein unpräzise formuliertes Testament zu interpretieren“, erklärt das Komitee auf seiner Homepage und gemeint ist das Testament Nobels.

Aber dort steht auch: Mit dem Preis werden ausgezeichnet „not only belles-lettres, but also other writings which, by virtue of their form and style, possess literary value“ – für den Nobelpreis braucht es also literarischen Wert. Allerdings kann der nach Nobel auch durch die „Tugend in der Form und im Stil“ entstehen („virtue“ mit „Tugend“ übersetzt, auch darüber kann man streiten). Also alles ok mit Alexejewitsch. Keine Rede von genuin schöpferischer Leistung, Einbildungskraft oder Fantasie. Radisch hatte einfach versucht, den Preis besser zu verstehen als sein Stifter.

Welche Lehren zieht man daraus? Hätte Nobel seinen Preis also doch besser „Not-only-belles-lettres-but-also-other-stuff-Preis“ genannt! Aber das war halt etwas zu sperrig. Und dieser Mut zur Kürze lässt Missverständnisse wachsen. Man kann sagen: Die Vergabekriterien für den Nobelpreis werden an dem Tag endgültig und zur Zufriedenheit aller feststehen, an dem das Komitee den letzten Willen eines Mannes geklärt hat, der seit über 100 Jahren tot ist und auf Papier nicht allzu viel hinterlassen hat. Das wäre dann auch das Ende des Preises. Und aller Literatur.

Bild: Erik F. Brandsborg, Aktiv I Oslo.no (cc by-nc-nd 2.0)

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