Ich mochte Marcel Reich-Ranicki nie, diesen ewigen Besserwisser und elendigen Querulanten. Und doch nötigte einem seine Frische und Direktheit und die Abneigung gegenüber allem übertriebenem Pomp Respekt ab, ja sogar so, dass ich noch ein paar Worte darüber schreiben möchte.
Fast schon komische Züge nahm es an, wenn er seine faktisch vorhandene Deutungshoheit auf literarischem Gebiet im Gespräch mit ehrgeizigen Journalisten vehement abstritt. Er war Experte und verweigerte doch immer wieder aufs Neue jeden künstlerisch-kritischen Führungsanspruch. Und er verweigerte auch die medientauglichen Sätze: Hat die Literatur Sie gerettet, Herr Reick-Ranicki? Hat Sie Ihnen geholfen, mit der schrecklichen Vergangenheit fertig zu werden? Diesen Gefallen tat er den Feuilletonisten und ihren vorgefertigten Kategorien nie.
Dabei hätte er allen Grund dazu gehabt, Entsprechendes zu behaupten. Als jüdischer Pole, polnischer Jude geboren, ins Warschauer Ghetto deportiert, geflüchtet, versteckt, ständig in Angst und Bewegung, fast einziger Überlebender der eigenen Familie, später inhaftiert wegen „ideologischer Fremdheit“ und mit Publikationsverbot belegt – ein sehr schwieriges Leben steht zu Buche.
Da steht es fast symptomatisch da, dass einer, der so viel erleiden musste, sich später in der Behandlung deutschen Kulturgutes ergeht, sich an den Dichtern und Denkern zu schaffen macht, diese letztendlich viel viel besser kennt und versteht als noch die deutschesten Deutschen – und obendrein erfolgreich und berühmt damit wird.
Für mich ist er der Hauptschuldige daran, dass das Sprechen über Literatur von breiten Massen immer noch verlacht wird. Zu präsent ist noch das Literarische Quartett, in dem Sendung für Sendung verstaubte, weltfremde Säcke mit professoralem Gestus scheinbar nichtssagende Floskeln austauschten. Und das Lustigste daran war auch immer noch, dass man ihnen einfach nicht zutraute, über die Sachen wirklich Bescheid zu wissen, über die sie da redeten, war es nun Sex, Tod, Gewalt oder Liebe. Und das färbte ab auf die Literatur, nach dem Motto: Wer nichts kann, kann immer noch labern und Seiten füllen.
Und trotzdem: Vielleicht wird nur dank MRR in Deutschland überhaupt über Literatur gesprochen? Schwierig zu beantworten. Auf jeden Fall bestimmte er die literarischen Debatten hier wie kein Zweiter, wie es kein akademischer Lehrer und kein Autor selbst je gekonnt hätten. Gerade in seinen Auseinandersetzungen, etwa mit Martin Walser oder Günter Grass, konnte diskutiert werden, in welcher Form Literatur in Deutschland überhaupt verhandelt wird.
Auch auf andere Medien wirkte er. Man denke nur an die Ablehnung des Deutschen Fernsehpreises für sein Lebenswerk (aus Ekel) und die dadurch angestoßene Diskussion über die Qualität der Unterhaltungsindustrie. Die Verfilmung seines eigenen Lebens – mit Matthias Schweighöfer als Marcel Reich-Ranicki – hat ihn übrigens „überhaupt nicht berührt“.
Was soll man noch sagen über diesen Mann, an dem sich die Literatur aufgerieben hat und dem sie so viel zu verdanken hat? Vielleicht dieses: Die Kraft der Literatur, so MRR einmal, werde häufig auch nur in einem einzigen Satz offenbar, den man ein Leben lang nicht mehr vergesse. Sein Satz (seine Sätze) war folgender, gelesen mit 12 oder 13 Jahren in der Vorrede zu Schillers Braut von Messina:
„Der Zuschauer will unterhalten sein. Das Vergnügen sucht er und ist unzufrieden, wenn man ihm da eine Anstrengung zumutet, wo er ein Spiel und eine Erholung erwartet. Es soll ein Spiel bleiben, aber ein poetisches. Alle Kunst ist der Freude gewidmet und es gibt keine höhere und ernsthaftere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken.“
Reick-Ranickis Kommentar dazu:
„Seitdem weiß ich, was ich von der Literatur zu erwarten habe.“
Marcel Reich-Ranicki sagte einmal, er sei nicht glücklich und es auch nie gewesen. Am 18. September 2013 ist er im Alter von 93 Jahren in Frankfurt gestorben.