Über die „unrealistische“ Oper

„Wann stirbt er denn jetzt endlich?“ Das fragen manche Menschen, wenn sie in die Oper gehen, und offenbaren einen subtilen zynischen, wenn nicht gar morbiden Charakterzug. Aber davon ab: Es stimmt ja auch. Da wird jemand mit einem Säbel aufgespießt und haucht nicht, wie man das eben erwarten würde, mehr oder weniger würdevoll sein Leben aus, sondern schwingt sich plötzlich zu philosophischen Betrachtungen über den Mord, sein eigenes Leben oder die Natur des Menschen auf. Da ist Platz für großen Hass oder Verständnis für die Opfer, Zukunftsangst, Liebe oder Zuversicht. Und alles noch gesungen.

So ist halt Oper, möchte man sagen, dann geht halt nicht hin. Manchmal macht das aber genau ein Defizit aus. Oper ist weniger wert als andere Kunstformen, weil sie eben eines ist: unrealistisch. Menschen singen nicht, wenn sie tödlich verwundet sind, vor allem nicht so pathetisch. Deshalb ist das alles abzulehnen.

Liegt es vielleicht daran, dass man diesen merkwürdigen Toden in der Oper besonders häufig begegnet? Die Opernhäuser beherbergen schließlich schon seit jeher allerlei Todgeweihte, das große, das größte Drama. Liebe oder Tod, Familie oder Tod, Ehre oder Tod, ach ja, nicht zu vergessen die kombinierten Formen: Liebe und Tod, Ehre und… drunter tun‘s die meistens nicht. Da kann es einen als Zuschauer schon mal überfordern und in der Folge nerven, dass es gar so pompös und merkwürdig ist.

Andererseits: Was an der Oper ist nicht pompös und merkwürdig? Warum stoßen sich die Kritiker gerade an den unrealistischen Sterbeszenen, wenn doch fast jede Unterhaltung gesungen ist? Wenn Menschen belauscht werden, von anderen Menschen, die direkt daneben stehen – und es noch nicht einmal merken? Wenn sich Protagonisten perfekt verkleiden, indem sie sich mal eben einen Schleier überwerfen? Wenn sich Liebespaare in einer Schwülstigkeit anschmachten, dass es sogar Leuten peinlich ist, die am Vortag noch von den Techtelmechteln im BigBrother-Container gerührt waren?

Ich kann nur mutmaßen. Bestimmt hat das mit den Problemen zu tun, eine fünfstündige Aufführung in seine Woche zu integrieren. Oder mit den Berührungsängsten, die es in Deutschland in Bezug auf klassische Musik gibt. Sicherlich nicht zieht jedoch das Argument, die Oper sei unrealistisch und deshalb abzulehnen, langweilig und blöd. Ansonsten wäre nämlich schnell alles blöd: Theater, Film, Musik und auch Literatur.

Alle Kunstformen funktionieren nach bestimmten Prinzipien. Wie sie entstanden sind, lässt sich oft nicht mehr rekonstruieren, aber wenn man sie als gegeben annimmt (also z. B. „Oper = Musik + Gesang + Handlung“), ist es logisch, wenn die Oper im Vergleich zum wirklichen Leben merkwürdig ist. Nur sehr selten sind alle meine Handlungen von einem 40-köpfigen Chor begleitet.

Das verhält sich aber mit allen Künsten so: Literatur ist nicht „realistischer“ und deshalb besser, weil sie etwa sagt, was ist, und Phänomene schildert, die es so auch in der echten Welt außerhalb der Buchdeckel gibt. Allein schon die Zeitgestaltung: Im echten Leben läuft meistens alles hintereinander ab, im Buch dagegen gibt es Sprünge nach vorne, hinten und zur Seite. Und so viele bedeutungsschwangere Symbole wie in literarischen Texten kommen einem im echten Leben doch auch nicht unter. So viele Perspektivwechsel wie eine Filmkamera kann ein Mensch allein niemals leisten. Und überhaupt: Musik? Nichts an der Musik ist echt – sie verweist nur auf sich selbst. Sie kann an Vogelgezwitscher oder einen murmelnden Bach erinnern, aber sie tut nicht mehr. In Musik findet man keine Phänomene des Alltags.

Es gibt noch unzählige Beispiele mehr und niemand stört sich daran. Man kann daran denken, wenn man wieder einmal Zeuge wird, wie sich jemand süffisant über die Oper lustig macht. Das kann man ja, denn jeder darf ja sowieso alles, sofern er mir oder anderen nicht damit schadet. Kunst lässt sich immer schlecht in „gut“ oder „schlecht“ einordnen und der Alltag oder die Übereinstimmung mit ihm sind sowieso immer ein schlechter Maßstab.

Kunst definiert sich eben dadurch, dass sie nicht normal ist, wie die echte äußere Welt. Wäre sie es schon, wäre sie ja Alltag. Und den haben wir ja schon – einfach so. So übertrieben dramatisch jeder Tod manchmal auch erscheint: Wer Oper mag, tut dies nicht trotz der blöden Sterbeszenen, sondern wegen. Aber vielleicht ist das Phänomen auch viel banaler und es handelt sich nur um bloße Prahlerei, die im Gewand des Bildungshasses daherkommt.

Bild: HerrWick // CC BY-NC-SA 2.0

CC BY-NC-SA 2.0

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