Ich mein ja nicht, ich sag ja bloß

Reinhold Messner, der berühmte Bergsteiger, und Christoph Ransmeyer, der etwas weniger berühmte, aber durchaus bekannte deutsche Schriftsteller, sind seit 25 Jahren befreundet. In einem Doppelinterview mit dem SZ-Magazin (30/2014) erfährt man viel Interessantes, z. B. dass Christoph Ransmeyer ein bisschen aussieht wie Steve Buscemi, aber auch, dass seine Schilderungen der schwierigen Umstände einer Expedition ins ewige Eis in seinem Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis sehr eindrücklich waren. So eindrücklich, dass sogar ein Profi wie Reinhold Messner bemerkte:

„Ich dachte: Wenn Eiswandern so schlimm ist, wie darin beschrieben, mache ich die Reise besser nicht.“

Und weiter:

„Ich dachte, Christoph sei die die Romanfigur Mazzini, der nach Spitzbergen geht und sich dort auf den Spuren der berühmten Payer-Weyprecht-Expedition in der Wildnis verliert.“

Da ist man als Literaturwissenschaftler fast versucht zu rufen: Classic! Messner hat damit eine sogenannte intentional fallacy begangen oder zu deutsch: einen intentionalistischen Fehlschluss. Soll heißen: Er hat von den Äußerungen des Erzählers eines Romans auf die Ansichten, Gefühle, Erlebnisse des real existierenden Autors geschlossen.

Nun gut, was ist daran nun eigentlich falsch? Der Autor ist im Entstehungsprozess eines Romans wohl die wichtigste Person: ohne Autor kein Text. Er ist juristisch für seinen Text verantwortlich, schließlich sind sogar der künstlerischen Freiheit Grenzen gesetzt. Es handelt sich um seine Ideen, die seinem Kopf entstammen und die er weiterverbreiten möchte. Manch einer möchte auch Geld mit seinem „geistigen Eigentum“ verdienen und tritt die Verwertungsrechte möglichst lukrativ ab. Mann kann also durchaus fragen: Wieso um alles in der Welt soll man den Autor hier aus der Verantwortung nehmen?

Das muss man natürlich nicht und jeder darf in einem Text das sehen, was er möchte. Allerdings wird es schnell langweilig, wenn sich die Lektüre nur noch auf die Persönlichkeit des Autors konzentriert. Dieses Interesse wäre ja nur mehr rein boulevardesk, wenn nicht gar voyeuristisch. Es würde keinen Unterschied machen, ob man die Bücher einer Schriftstellerin liest oder ob man sich anhört, was im RTLII-Promispecial über sie berichtet wird.

Diese Lesart nennt sich positivistisch und war einst groß in Mode. In Deutschland kam sie wohl im Zuge mit der Begeisterung für das Leben und Wirken Goethes auf. Verständlich: Es gab ja noch keine Klatsch- und Tratschmagazine, kein exclusiv und kein taff, das Bedürfnis war aber vorhanden. Man konnte sich nur mit der Literatur selbst behelfen, um Informationen über das Leben eines großen Autors zu erhalten. Wie das mit Moden so ist, wurde sie irgendwann alt. Man interessierte sich langsam mehr für das Mach- und Kunstwerk: den Text und dessen ästhetische Qualität, weniger für den Schöpfer und Urheber.

Für einen Historiker kann es ja unter Umständen sinnvoll sein, Literatur so zu lesen. Für Literaturwissenschaftler aber weniger. Mit dem Begriff der „Aussageabsicht“ unterstellt man stillschweigend, dass ein Werk immer eine Aussage haben muss. Evtl. hat sich aber der Autor wirklich nichts dabei gedacht. Vielleicht hielt er oder sie nur eine bestimmte Geschichte für erwähnenswert, weil man darüber mal herzlich gelacht hatte.

Für Messner und Ransmeyer hatte die intentional fallacy zwar sehr schöne Auswirkungen und mündete in einer langen Freundschaft. Doch verkennt man damit ein höchst subjektives, auch unbewusstes Moment des Schreibens. Dieses besteht etwa in der Verwirrung, der man manchmal beim Lesen alter Tagebucheinträge ausgesetzt ist. Oder darin, dass man beim Lesen frei erfundener Geschichten aufgewühlt oder gerührt ist. Nicht die Fakten sind dabei entscheidend. Reinhold Messner sagt (und er sagt es schön):

„Der Dichter kommt mit seinen Bildern viel näher an die Wahrheit heran.“

Texte erzählen uns also viel mehr über uns als über den Autor, von dem sie stammen. Anders wäre das ja auch albern. In den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts drückte es der heute in Vergessenheit geratene österreichische Schriftsteller Leo Perutz so aus:

„Meine innere Entwicklung ergibt sich für jeden, nur nicht für mich, aus der Lektüre meiner Romane.“

 Bild: Invisible Builder von Lucho Molina (bearbeitet von mir, CC BY NC 2.0)

 

Die Letzten werden die Ersten sein

Peder Zane hat da ein interessantes Projekt verfolgt. Für das von ihm herausgegebene Buch The Top Ten: Writers Pick Their Favorite Books befragte er 125 zeitgenössische Autoren nach ihren persönlichen literarischen Vorlieben, darunter auch Koryphäen wie Norman Mailer oder Jonathan Franzen. Eine Zusammenfassung findet sich bei brainpickings.org.

 

Natürlich ist es schwierig und in hohem Maße problematisch, Listen zu bilden, zumal auf künstlerischem Gebiet. Texte verweigern sich bekanntermaßen einer objektiven Bewertung und können auch nicht einem Sportwettkampf gleich gegeneinander antreten – auf dass am Ende der Beste gewinnen möge!

 

Selbst bei diesen gehen die Meinungen über „die beste Mannschaft“ ja trotz Sieg oder Niederlage oft auseinander. Sogar beim Fußball spielt der Geschmack eine gewichtige Rolle. Kurz und gut: Hierarchisierungen sind immer angreifbar, egal, wer sie erstellt hat. Keine Autorität ist stark genug, um die Menschen in Geschmacksurteilen zu überzeugen.

 

Dazu kommen noch die Definitionsschwierigkeiten beim Wörtchen „great“, wie es im Vorwort heißt – toll für mich oder für andere? Für die wohl meisten Menschen auf der Erde? Toll, gerade weil’s niemand offen toll findet? Jegliche Einschätzung, und sei sie auch noch so um Objektivität bemüht, kann sich einer zutiefst subjektiven Komponente nicht erwehren.

 

Trotzdem ein ehrgeiziges Unterfangen. Und wenn man davon ausgeht, dass gerade Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit am meisten lesen, da sie ständig auf der Suche nach Inspiration sind, die neuesten Trends verfolgen oder auch nur wissen wollen, was die Kollegen/Konkurrenten so treiben, kann man der Umfrage eine gewisse Repräsentativität sicherlich nicht absprechen.

 

Auf Platz eins der besten Werke aus dem 20. Jahrhundert steht beispielsweise Vladimir Nabokovs Lolita, Der Große Gatsby (Fitzgerald) oder Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Proust) folgen auf den Plätzen zwei und drei. Auch die Einschätzungen über das 19. lassen sich nachvollziehen: Anna Karenina, Madame Bovary und Krieg und Frieden – damit hätte man durchaus rechnen können.

 

Auffällig ist auf jeden Fall, dass sich die großen Deutschsprachigen gerade nicht in der Liste bzw. nur sehr weit unten finden. Franz Kafka kommt auf fünf unterschiedliche Nennungen seiner Werke, Thomas Mann auf vier (zum Vergleich. Shakespeare, die Nummer eins an Nennungen, kommt auf elf). Bei den Punkten insgesamt (wie auch immer sie zustande gekommen sind) findet sich in den Top Ten überhaupt kein deutschsprachiger Autor. Woran mag das liegen?

 

Zunächst ist man versucht, zu sagen: Klar, es gibt ja auch viel weniger Menschen, die des Deutschen mächtig sind. Aber gerade z. B. die russischen Realisten heimsen viele Punkte ein. Und obendrein werden Autoren oft auch übersetzt. Könnte es echt sein, dass Goethe und Schiller, so wichtig sie für das deutsche Selbstverständnis sind, über die heutigen Grenzen hinaus niemanden mehr so recht zu Höchstleistungen anspornen können?

 

Andererseits muss man auch sagen: Warum sich mit Goethe aufhalten, wenn man denn Shakespeare schon hat und mit Gewinn liest? Warum sich mit Fontane abmühen, wenn man stattdessen Dostojewski und Tolstoj haben kann? Warum Kafka anstatt Flaubert und Hugo? Und warum überhaupt Thomas Mann?

 

Aber, nun gut: Die Liste ist ja höchst subjektiv. Wirklich. Über alle Maßen. Von irgendwelchen dahergelaufenen Autoren, die ja gar nicht wissen, was ihnen alles entgeht.

 

Bild: Jim Monk (unter CC BY-NC-SA 2.0)

Die Besten der Besten

Ich hab’s ja immer gewusst, und nun bestätigt irgendein beliebiger Artikel aus dem Internet ein Artikel der Plattform elitedaily.com meine Vermutungen: Why Readers, Scientifically, Are The Best People To Fall In Love With. Zusammengefasst: Wer liest, ist ein besserer Mensch. Und: Wissenschaftliche Studien belegen das. Aber: Zeitungen oder Sachbücher lesen allein reicht nicht, es muss schon Literatur sein.

 

In den Zeiten lustiger Memes, GIFs und klickgeiler Online-Nachrichtenportale stürben die alten (guten) Leser allmählich aus, genauso wie die sogenannten „voicemail leavers“ und „card writers“. Höchste Zeit also, sich so einen dieser Leser zu schnappen. Die sollen oft in Cafés, Kantinen oder an Stränden rumlaufen und man erkennt sie daran, dass sie eimer-, rucksäcke- oder kofferweise Bücher mit sich rumschleppen. Schnell zugreifen, bevor es zu spät ist.

 

Kein Wunder, dass alle Welt vereinsamt. Wer lieber einmalig ein paar Hundert Euro für einen E-Book-Reader ausgibt, anstatt immer wieder mit seiner Nachfrage die papierne Verlagsindustrie zu bedienen, braucht sich nicht wundern, wenn er hinterher ohne Seelenpartner dasteht. Wie sollte man mit seinem Gerät auch von den Legionen an Smartphone-Nutzern unterscheiden können, die ohne Unterlass ihre Katzenbilder und Buzzfeed-, Upworthy- oder heftig.co-Artikel austauschen?

 

Und nicht nur, dass diese Leute einsam bleiben: Die Welt wird generell zu einem schlechteren Ort. Denn gerade die Leute werden ja weniger, die „proven to be nicer and smarter than the average human“ sind. „Maybe the only people worth falling in love“ – gut, dass die bei elitedaily keine Neigung zu plakativen Äußerungen haben.

 

Sehen wir uns die Begründungen doch etwas genauer an:

 

[…] readers are more intelligent, due to their increased vocabulary and memory skills, along with their ability to spot patterns. They have higher cognitive functions than the average non-reader and can communicate more thoroughly and effectively.

Das sind alles sehr schöne Fähigkeiten, die man bestimmt aus der Lektüre schöner Bücher ziehen kann – aber eben nicht nur. Bestimmte Wissenschaftler, PR-Agenten oder Journalisten verfügen ebenfalls über einen großen Wortschatz, Ethnologen und Biologen erinnern sich besonderes an bestimmte Exemplare einer bedrohten Art – von der Fähigkeit von Mathematikern, Musikern oder Philosophen, Muster zu erkennen, ganz zu schweigen. Würde man jemandem höhere Gehirnleistung attestieren als Physikern wie Stephen Hawking? Der Schluss „It’s no surprise that readers are better people“ drängt sich nicht unmittelbar auf.

 

Dazu, so heißt es, lehre Literatur auch Empathie: Man leidet, liebt und lacht mit den Charakteren aus seinen Büchern und kann sich in der Folge viel besser in seine Mitmenschen hineinversetzen. Dieses Argument lässt sich schon allein in logisch-mathematischer Hinsicht entkräften, da allein ich schon mindestens eine Person kenne, die Literatur zu schätzen weiß, aber auf zwischenmenschlicher Ebene unglücklich, um nicht zu sagen: unsensibel, agiert. Empathie kann man bestimmt auf andere Arten noch besser lernen als über Literatur.

 

Vielleicht ist dies der einzige Satz aus dem Artikel, dem man uneingeschränkt zustimmen kann:

 

[…] reading is something that molds you and adds to your character.

Was genau es hinzufügt und in welche Richtung es einen formt, lässt sich aber nicht sagen. Allein die Bereitschaft, sich auf diese Veränderung einzulassen, zeugt schon von einer Offenheit, die man darüber hinaus nicht mehr glorifizieren muss.

 

Bild: lovers moments +4 inside // CC BY-NC-SA 2.0

Deutsche Sprache, schwere Sprache

Vor allem Erasmus-Studenten dient das Bashing der deutschen Sprache oft als Ersatz für interessantere Themen. Sie sei hässlich, sie sei sperrig, und überhaupt klängen sowieso alle auf Deutsch getätigten Äußerungen nach Hitler oder Kaiser Wilhelm. Der prominenteste Fürsprecher dieser Ansicht ist sicherlich Mark Twain, dessen humoristisches Pamphlet The Awful German Language gerne in solchen Anlässen hervorgekramt wird.

Ich habe kein Verständnis dafür, wie mann denn eine Sprache nur kraft ihrer Laute verurteilen kann. Und wenn man brüllt wie Hitler, klingt man in allen Sprachen wie er, so viel ist klar.

Sprachen sind nicht vordergründig schön. Sie haben nicht schön zu sein, zumindest ist das nicht ihre Aufgabe. Die wiederum ist es, zwischen den einzelnen Bewohnern eines bestimmten Gebiets Kommunikation zu ermöglichen. Tut sie das nicht, stirbt sie aus. Tut sie es, kann sie sich ruhig zurücklehnen.

Wenn sie dann auch noch schön ist: umso besser. Das fand auch  der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges. Er war ein großer Fan des Deutschen und widmete ihr eine Ode, A la lengua alemana, die ich unten nachliefere. Zuerst im Original, dann in der deutschen Übersetzung.

Das macht die Sprache insgesamt natürlich nicht schöner im Klang. Aber es ist auch eine bemerkenswerte Leistung: nicht nur da zu sein, nicht nur zu funktionieren, damit der Gedanke der Inspiration die Lorbeeren einheimsen darf – sondern eben auch selbst Inspiration zu sein. Das haben nicht viele geschafft.

 

A la lengua alemana

Mi destino es la lengua castellana,
El bronce de Francisco de Quevedo,
Pero en la lenta noche caminada,
Me exaltan otras músicas más íntimas.
Alguna me fue dada por la sangre-
Oh voz de Shakespeare y de la Escritura-,
Otras por el azar, que es dadivoso,
Pero a ti, dulce lengua de Alemania,
Te he elegido y buscado, solitario.
A través de vigilias y gramáticas,
De la jungla de las declinaciones,
Del diccionario, que no acierta nunca
Con el matiz preciso, fui acercándome.
Mis noches están llenas de Virgilio,
Dije una vez; también pude haber dicho
de Hölderlin y de Angelus Silesius.
Heine me dio sus altos ruiseñores;
Goethe, la suerte de un amor tardío,
A la vez indulgente y mercenario;
Keller, la rosa que una mano deja
En la mano de un muerto que la amaba
Y que nunca sabrá si es blanca o roja.
Tú, lengua de Alemania, eres tu obra
Capital: el amor entrelazado
de las voces compuestas, las vocales
Abiertas, los sonidos que permiten
El estudioso hexámetro del griego
Y tu rumor de selvas y de noches.
Te tuve alguna vez. Hoy, en la linde
De los años cansados, te diviso
Lejana como el álgebra y la luna.

 

Ode an die deutsche Sprache

Die spanische Sprache ist mein Schicksal,
Franzisco de Quevedos Bronze,
Doch auf dem langen Weg durch die Nacht
Begeistern mich andre, intimere Musiken.
Eine wurde mir ins Blut gelegt –
O Stimme Shakespeares und der Schrift –
Andere durch den Zufall, der freigiebig ist,
Dich aber, liebliche Sprache Deutschlands,
Dich habe ich erwählt und gesucht, ganz allein.
Durch Nachtwachen und Grammatiken,
Den Dschungel der Deklinationen,
Durch das Wörterbuch, das sich nie annäherte
Dem exakten Ton, habe ich mich Dir genähert.
Meine Nächte sind angefüllt mit Vergil,
So sagte ich einmal; auch könnte ich gesagt haben
Mit Hölderlin und Angelus Silesius.
Heine gab mir seine lauten Nachtigallen;
Goethe, das Glück einer späten Liebe,
Sowohl gütig wie auch abhängig von Güte;
Keller, die Rose, die eine Hand ließ
In der Hand eines Toten, der sie liebte
Und der nie wissen wird, ob sie weiß oder rot ist.
Du, Sprache Deutschlands, Du bist Dein
Hauptwerk: Die Liebe verflochten in
Wortverbindungen, die offenen Vokale,
Die Laute, die das Studieren der
Griechischen Hexameter erlauben
Und das Raunen Deiner Wälder und Nächte.
Dich besaß ich einmal. Heute, am Rande
Der müden Jahre gewahre ich Dich
Entfernt wie die Algebra und den Mond.

 

Foto: raining words; in a moment // CC BY-NC 2.0

Was ist denn schon dabei?

Eigentlich sollte Baerentanz ja ein Literaturblog sein, das sich mit dem Wesen literarischer Texte befasst und versucht ihre Funktionsweise zu veranschaulichen. Manchmal produzieren aber auch Politiker Texte, die es verdienen, untersucht zu werden. Lorenz Caffier (CDU) hat gerade einen solchen abgeliefert. Der Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern war wohl beleidigt. Angesichts der Überlegungen, Edward Snowden die Ehrendoktorwürde der Universität Rostock zu verleihen, bemerkt er in einem Gastbeitrag auf ZEIT Online:

 

„Seit meinem Amtsantritt predige ich, vorsichtig im Umgang mit der Technik zu sein.“

Das, was Snowden der Welt mitzuteilen gehabt habe, sei ja kalter Kaffee und schon seit langer Zeit bekannt. Snowden dürfe nicht ausgezeichnet werden. Ich finde auch: Viel eher sollte natürlich Caffier den Ehrendoktor kriegen, der in seiner Stellungnahme digitalen Fatalismus offenbart. Wer seinen Rechner einschalte, muss sich bewusst sein, „dass er von dem Moment an nicht mehr allein“ sei.

 

„Egal, wer sich da gerade reinhackt, ob das die Chinesen oder die Amerikaner oder die Russen sind. Es ist doch nichts Neues, dass all diese Länder Daten einsammeln.“

Das leuchtet zwar ein, erklärt aber nicht, warum diese Vorgänge einfach hingenommen werden sollten. Nach derselben Logik wäre jeder selbst schuld, der beim Überqueren der Straße von einem Auto angefahren wird. Wer am Straßenverkehr teilnimmt, setzt sich ja wissentlich auch den Risiken dort aus. Dass dem Staat gegenüber seinen Bürgern in gewissen Bereichen eine wichtige Schutzfunktion zukommt, würde niemand abstreiten. Dass aber auch das Internet ein solcher Bereich sein kann, in dem sich ja bereits ein Großteil der menschlichen Kommunikation abspielt, ist aber bei vielen Diskussionsteilnehmern noch nicht angekommen. Folgerichtig erklärt Caffier:

 

„Ich finde: Man sollte sich im Internet nicht komplett entblößen, dann geht es einem auch besser.“

Nur Allgemeinplätze zu verbreiten ist keine Leistung, und vor allem keine wissenschaftliche, deshalb würde eine Verleihung an Snowden das Wesen dieser akademischen Auszeichnung aushöhlen:

 

„Ich kann nur davor warnen, den Dr. h. c als Massengut zu betrachten! Es gibt lediglich eine Handvoll Ehrendoktoren in Rostock, mit gutem Grund.“

Albert Einstein gehört zum Beispiel dazu, das spricht Bände. Dessen Leistung ist unbestritten, so etwas sollte natürlich nicht geschmälert werden. Allerdings gibt es allein an der Uni Rostock nicht nur ein paar Ehrendoktoren, sondern es sind viel mehr, wenn man Wikipedia hier Glauben schenken darf. Überhaupt werden Ehrendoktoren als Währung für politische oder andere Verdienste eher inflationär benutzt. Helmut Kohl hat über 20, Angela Merkel mindestens vier, der Dalai Lama über 40. Spitzenreiter ist übrigens der amerikanische Theologe Theodore Hesburgh, der mit 150 Doktortiteln honoris causa sogar im Guiness-Buch der Rekorde steht. Den Status als Massengut hat die Ehrendoktorwürde längst inne.

 

Zu guter Letzt zeigt sich Caffier auch naiv: Geheimdienste von Rechtsstaaten sind schon allein dadurch gerechtfertigt, da es sich ja eben um Rechtsstaaten handelt. Der Rechtsstaat ist eine gute Sache, deshalb auch alle seine Auswüchse. Dass auch in Rechtsstaaten politische Vorgänge immer neu verhandelt werden und etwa an sich verändernde Erfordernisse verschiedener Zeiten angepasst werden müssen, vergisst der Innenminister, wenn er sagt:

 

Der Geheimdienst eines Rechtsstaates ist nicht die Stasi. Wir brauchen Geheimdienste, um innere und äußere Sicherheit zu gewährleisten. Es kann nicht unser Ziel sein, Hackern die Kontrolle über rechtsstaatliche Verfahren zu überlassen.

Genau das hat aber niemand gefordert. Ein Computerspezialist, der die anlasslose, flächendeckende Überwachung, Speicherung von Meta- oder Direktdaten kritisiert, hat damit noch nicht die Abschaffung der Geheimdienste verlangt. Er hat auch nicht verlangt, anstatt der Geheimdienste ein Konsortium aus Programmierern, Netzaktivisten oder Hackern einzusetzen, das von nun an Spionagetätigkeiten koordinieren und betreuen soll.

 

Caffier bemüht hier bewusst das Bild der bösen Hacker, die alles besser wissen und obendrein ja auch kriminell sind. Oder? Naja, wahrscheinlich schon, es sind ja auch Hacker. Allein das Wort schon. Nach dem Prinzip: Ist schon alles nicht ok, aber immerhin besser als solche Freaks!

 

Dass viele dieser Freaks keine Anarchie im Cyberspace errichten wollen, sondern einfach transparente, staatliche und demokratische Kontrolle verlangen, das blendet Caffier aus. Er selektiert, ordnet und gewichtet seine Wahrnehmung in einem ganz bestimmten Sinne – wie ein Schriftsteller. Ich hoffe aber trotzdem, dass ich mich in Zukunft wieder mehr mit den Ursprüngen befassen kann…

 

Bild: National Museum of American History / CC BY-SA-NC 2.0

Ich hab da was im Auge

Ein Beitrag aus der Kategorie Was ist denn nun eigentlich Literatur?, und erfreulicherweise wieder einer, der sich des Themas aus fachfremder Perspektive annimmt. Der Fotograf Brooks Jensen kommt in seinem Aufsatz 21 Wege, die eigene Fotografie zu verbessern ([Update 27.11.19: englisch leider nicht mehr zu finden]) zu folgendem Schluss:

„Wir machen keine Kunst, um zu zeigen, wie etwas aussieht. Dafür braucht man nur Augen (oder ein Objektiv). Kunst soll Bedeutung haben, Gefühle spiegeln, Kraft ausstrahlen und eine gewisse Magie beinhalten. Zeig nicht einfach, was das Motiv ist, sondern zeig, was es nicht ist, was es bedeutet, wieso es existiert, für wen es ist, wo es sich befindet und wann es ist. Stell dir einen Roman vor, der nur aus Beschreibungen besteht; ohne Handlung, Motivation, Tiefe oder Dramaturgie wäre ein Roman nur ein Katalog von Objektbeschreibungen. Bei Fotografien ist es genauso.“

Die Forderung, das Kunst gefälligst Bedeutung haben solle, wirkt auf den ersten Blick trivial, ist es aber mitnichten. Generationen von Autoren, Fotografen, Bildhauern, Malern etc. dürften sich mit dieser Frage bereits aufgehalten haben – und an ihr verzweifelt sein. Werke mit Bedeutung zu schaffen möchte natürlich jeder, allein: Wie stellt man es an?

Jensen gibt einen Tipp:

„Der höchste Zweck der Fotografie als Kunst ist die Kommunikation durch Bilder mit Deinen Mitmenschen. […] Wenn Deine Arbeit nicht jemanden bewegt, bewegt sie gar nichts.“

Nun, mir ist zwar noch kein Roman untergekommen, der nur aus Objektbeschreibungen besteht, aber denkbar erscheint mir sowas doch. Wieso auch nicht? Es gibt ja heute nichts, was es nicht gibt. Und bestimmt gäbe es in dem Fall auch Leser, die daran Gefallen finden würden und gerührt reagierten.

Ist das dann also Kunst? Aus Jensens Argumentation kann man das nicht ableiten, schließlich spricht er nicht von einer Wenn-dann-Beziehung, sondern nur vom Zweck der Kunst. Und obendrein spricht er auch nicht davon, ob Kunst nur Kunst sein kann, wenn sie bewegt – oder kann ein Werk nicht einfach gar nichts bewegen und trotzdem Kunst sein? Gerade durch die absolute Nichtswürdigkeit, die es ausmacht, oder aufgrund der Unbewegtheit, mit der sie uns langweilt?

Meiner Meinung nach ist der Aufsatz weniger als Aufzählung aufzufassen, was Kunst soll und wie man das erreicht, sondern vielmehr als eine darüber, was Kunst kann. Können kann. In der Theorie. Wie das genau umzusetzen ist, darüber gibt Jensen keine Auskunft. Seine Liste ist eher eine Anleitung dazu, Ordnung im Kopf junger überforderter Fotografen zu schaffen, die nicht wissen, wie sie ihr Projekt anpacken sollen. Sie stellt eine Übersicht über die Stellschrauben dar, die auf dem Weg zur Kunst angezogen werden können. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.

Foto: Gives Ya The Big Eye von Randen Pedersen (unter CC BY 2.0)

Die NSA-Affäre als literarische Krise

Die NSA-Affäre hat enormes literarisches Potenzial. Natürlich zuallererst aufgrund der Handlung. So berichtet etwa der US-amerikanische Journalist Glenn Greenwald in seinem Buch Die globale Überwachung (engl.: No Place to Hide) davon, wie sein erstes persönliches Treffen mit Edward Snowden zustandekam:

„Im dritten Stock, so Laura [Poitras], sollten wir den erstbesten Hotelangestellten, dem wir in der Nähe des vorgesehenen Treffpunkts begegneten, fragen, wo es hier ein geöffnetes Restaurant gebe. Diese Frage wäre für Snowden, der sich in Hörweite aufhalten würde, das Signal, dass uns niemand gefolgt war. In dem bewussten Raum sollten wir auf einem Sofa neben einem ‚Riesenalligator‘ warten, der allerdings nur zur Dekoration diente, wie mir Laura bestätigte.“

Geheime Parolen, Luxushotels, Riesenalligatoren: alles, was ein guter Thriller braucht. Dass Snowden dann auch noch einen Zauberwürfel als Erkennungsmerkmal in der Hand hält und das Ganze in Hongkong stattfindet – geschenkt. Die Affäre hat das Zeug zum Spionagefilm (wenngleich eine Bearbeitung seitens Hollywood wohl noch auf sich warten lassen wird).

Die NSA-Affäre verfügt aber auch noch über ganz andere literarische Qualität. Diese hat nichts mit den konkreten Personen, Details oder Umständen zu tun, unter denen die Dokumente veröffentlicht wurden. Sie ist viel allgemeiner und liegt vielmehr in der Natur der Tätigkeiten von Geheimdiensten begründet, die der des Schreibens und Lesens von literarischen Texten nicht unähnlich ist.

Diese haben den einfachen Traum, alles zu wissen: was Menschen tun, was sie heimlich tun, was sie denken, fühlen und planen. Denn wenn man alles weiß, kann man alles vorhersehen und Katastrophen verhindern, etwa Verbrechen oder im schlimmsten Fall terroristische Anschläge. Im Endeffekt ist die Sicherheit gewährleistet und alle profitieren davon. Dahinter steckt eine sehr deterministische Weltsicht: Alles Kommende ergibt sich aus dem gegenwärtigen Zustand. Schon der französische Mathematiker Pierre-Simon Laplace hatte sie im 18. Jahrhundert in Form seines Dämons präsentiert: Ein Wesen, das in jedem Augenblick bestens über alle Zustände und Gesetze Bescheid weiß, kann alle künftig folgenden Zustände vorhersehen.

Nimmt man das als gegeben und wahr an, ist die lückenlose Überwachung prinzipiell also eine gute Sache – von der Problematik des Eingriffs in die menschliche Privatsphäre mal abgesehen. (Die wollen wir an dieser Stelle mal vernachlässigen.) Vertraut man auf diese Prämissen, ist es nur folgerichtig, den Traum von der Allwissenheit mit Hilfe des Internets oder automatisierten Programmen wie PRISM oder XKeyscore zu verfolgen.

Den Beweis, dass dies alles so funktioniert, können die Geheimdienste aber niemals erbringen. Es kommt schlicht nie so weit, denn das Projekt stößt irgendwann naturgemäß an seine Grenzen. Man kann nie alles wissen. Beispielsweise kann man nicht in die Köpfe der Menschen hineinschauen, Gedanken kann man nicht lesen. Selbst wenn jemand politische Überzeugungen auf Facebook postet, kann man nie wissen, wie das im Einzelfall genau gemeint ist. Ob der- oder diejenige überhaupt offen sprechen konnte, oder ob vielleicht im Augenblick des Postens gerade Eltern/Lehrer/Pfarrer etc. über die Schulter geschaut haben.

Gesammelte Daten können nie ein lückenloses Bild einer Person ergeben. In der Literatur ist das ähnlich: Die echte, äußere Welt in einem Roman wiederzugeben, müsste zwangsweise in einem Buch mit unendlichen vielen Seiten münden. Autoren können nicht gottgleich eine alternative Realität erschaffen, sie müssen selektieren und sich für oder gegen bestimmte Darstellungen entscheiden. Die Parallelwelt entsteht erst in der Vorstellung der Rezipienten, die die vom Autor zwangsweise eingestreuten Leerstellen ausfüllen.

Wer nicht alles weiß, muss Gedankenarbeit verrichten, um nur zufällig gelesenen oder beobachteten Ereignissen – ob das nun zwei sind oder hunderte – einen gemeinsamen Sinn zuschreiben zu können. Literarische Texte und Bewegungsdaten müssen immer interpretiert werden und Interpretationen können fehlgehen oder verfügen zumindest immer über ein subjektives Moment. Dieses geht jedoch den Computern ab, die aufgrund der schieren Datenmenge von Millionen überwachten Nutzern diese Interpretationsleistung vollbringen müssen. Computer verstehen aber keine Ironie oder Wortspiele, können nicht im Subtext lesen und erkennen keine Sinnzusammenhänge – sie können lediglich Text durchforsten (siehe hierzu auch das lesenswerte ZEIT-Dossier).

Ein bärtiger Mann kauft im Baumarkt Napalm, eine Zündschnur und eine Harke – ist er nun ein Terrorist? Oder jemand, der nach Feierabend noch Laub harken und verbrennen möchte? In jedem Fall wäre die Person einem Computer verdächtig. Angst muss man also an sich nicht vor der Vollüberwachung und -erfassung haben. Wenn diese möglich wäre, würde zwar jeder erst einmal unter Generalverdacht stehen, doch dieser könnte bei Unschuldigen in jedem Fall ausgeräumt werden, während potenziell Kriminelle in jedem Fall aufgehalten würden. Die Gefahr besteht vielmehr darin, dass es den Geheimdiensten eben nicht gelingt, zweifelsfrei zu entscheiden. So werden viel eher Unsicherheit und ein Klima der Angst befördert.

Ein neues, lukratives Geschäftsfeld für Geisteswissenschaftler eröffnet sich hier aber eher nicht. Die besseren Spione als IT-Spezialisten oder Mathematiker wären sie auch nicht. Ein vorsichtiger Hermeneut ließe sich nie auf die unerfüllbare Forderung nach der einen, „richtigen“ Interpretation ein. Die meisten von ihnen haben da anderes zu tun. Aber fragen hätte man ja mal können.

Nachtrag: Urs Hafner illustriert in der NZZ anhand eines Beispiels, dass mit großen Datensammlungen allein an sich nichts anzufangen ist und diese der Interpretation bedürfen.

Bild: Sherlock shadow von Flickr-User sake028 (unter CC BY-NC-SA 2.0)

Eine These zur Zukunft der Literatur

Ich habe eine These zur Zukunft der Literatur. Kommen wir ohne Umschweife zum Punkt. Sie lautet:

Es wird immer Literatur geben.

Thesen zur Zukunft irgendeiner Sache werden gerne aufgestellt. Und noch viel lieber werden sie aufgestellt, wenn eben diese Zukunft düster aussieht oder viele Menschen es für möglich halten, dass die Zukunft unter bestimmten Umständen und Entwicklungen mal düster aussehen könnte. Eine schnelle Google-Recherche liefert folgende Ergebnisse:

_ Thesen zur Zukunft des Journalismus
_ Thesen zur Zukunft der Medien
_ Thesen zur Zukunft der Arbeitgeberkommunikation
_ Thesen zur Zukunft der Arbeitsgesellschaft
_ Thesen zur Zukunft Österreichs (???)
_ Thesen zur Zukunft des HSV
_ Thesen zur Zukunft des öffentlichen Diensts

Will man besonders eindringlich auf etwas hinweisen oder warnen, stellt man den Thesen ein Adjektiv voran und somit zornige, simple, längst überfällige etc. Thesen auf. Sebastian Langer hatte auf seinem Blog (wurde mittlerweile eingestellt) einmal gezählt, dass bis November 2013 fast 300 mehr oder weniger unterschiedliche Thesen zur Zukunft des Journalismus aufgestellt worden waren. Seine These: Langsam gibt es genügend Thesen.

Um diesen inflationären Gebrauch der generellen Thesensteller- und -klauberei nicht noch weiter zu befeuern, gibt es von mir also nur eine These zur Zukunft der Literatur. Hier noch einmal zur Erinnerung:

Es wird immer Literatur geben.

Klingt zuerst banal. Man kann die These auch ruhig unmittelbar als falsch verwerfen und darauf verweisen, dass der Markt für E-Books ja schließlich immer größer wird und… aber halt! Es ist keine These zur Zukunft der Verlagsindustrie. Ich treffe keine Aussage darüber, ob Literatur immer in Büchern stehen wird oder nach und nach daraus verschwinden wird.

Viele arrivierte Autoren beklagen sich darüber, dass sie immer weniger Geld verdienen (Helmut Krausser beklagt sich darüber, dass es böse Literaturkritiker gibt – aber der beklagt sich ja immer über irgendwas). Verlage beklagen sich darüber, dass der Markt so schnelllebig und knallhart geworden ist. Junge, unbekannte Autoren beklagen sich, dass sie keine Chance haben, sich bei einem dieser bemitleidenswerten Verlage durchzusetzen und somit selbst zu lamentierenden arrivierten Autoren zu werden. Letzten Endes werde die Literatur daran zugrunde gehen, heißt es oft.

Das sagen viele vorher. Dabei erwähnen sie aber meist nicht, dass sie sich nur nicht von einem angenehmen Zustand verabschieden wollen, der sie einmal sehr begünstigt hat – was auch nur mehr als verständlich ist. Niemand will das.

Man sollte aber nicht sein eigenes, privates Wohlergehen an das Schicksal der Literatur koppeln. Das würde im Endeffekt bedeuten: Wenn ich nicht mehr zum Schreiben komme oder uns der Markt nicht mehr erlaubt, tolle Bücher zu produzieren, stirbt die Literatur. Das wäre dann doch ziemlich vermessen.

Literatur ist größer und lässt sich nicht bestimmen. Sie muss nicht von einem Autor mit Pfeife geschrieben oder in einem Verlagshaus gedruckt worden sein, um Literatur zu sein. Etwas anderes macht sie dazu, etwas, das sich nicht einfangen lässt und Verlage, Autoren, Bücher, Papier und uns selbst überleben wird. Literatur wird immer da sein.

Foto: Enthusiasm Curbed von Tom Page (von mir bearbeitet, unter CC BY-SA 2.0)

Wirkung des Wortes

Ralf Höcker war sich der fehlenden Wirkung und Überzeugungskraft seiner Person bewusst, darum hat er wohl ein Buch geschrieben. Von seinem Lexikon der Rechtsirrtümer und den entsprechenden Folgewerken haben sich unzählige Exemplare und Auflagen verkauft. Darin räumte Höcker mit allerlei Mythen des Alltags auf (Achtung, Stand 2007): Im Fitnessstudio darf man eigene Getränke verzehren. Gastwirte haften unter gewissen Umständen sehr wohl für die Garderobe ihrer Gäste. Eltern haften auf Baustellen gar nicht unbedingt für ihre Kinder. Und sogar reduzierte Ware kann man zurückgeben. Solche Dinge. Wissen, das sich vor allem abends beim Feierabendbier wie vollendete Weisheit ausnimmt.

Die deutschen Gesetze legen einen – manchmal engeren, manchmal weiteren – Rahmen für alles fest, was in der Gesellschaft erlaubt ist und was nicht. Als promovierter Jurist kann Höcker sich eigentlich auf seine wasserdichte Expertise verlassen – das Problem ist nur: Niemand glaubt ihm.

Die Mitarbeiter im Fitnessstudio weisen einen dezent drauf hin, die mitgebrachte Wasserflasche verschwinden zu lassen und die Verkäufer bei C&A weigern sich konsequent, reduzierte, aber beschädigte Ware anzunehmen. Was also tun?

Höcker akzeptierte, dass sich gewisse Überzeugungen in der Gesellschaft einfach halten und lange brauchen sich zu ändern. Ein Mensch allein kommt dagegen nicht an, also verlieh er seinen Reklamationen einen Touch des Ewigen: Er kopierte einfach die betreffenden Passagen aus seinen Büchern und legte sie an der Kaufhauskasse vor.

Die Folge waren Verwirrung, rege Telefonate mit allerlei Vorgesetzten und letzten Endes auch – Erfolg. Lange Vorrede, kurzer Sinn: Der Wirkung des gedruckten Wortes konnte und kann sich niemand entziehen. Was irgendwo geschrieben steht, scheinen die Leute zu glauben, was man sich erzählt, wird meist nur gemunkelt. Wie hätte es gewirkt, wenn Luther seine Thesen nur laut verkündet hätte, anstatt sie an die Schlosskirche zu nageln? Oder Mose und die Zehn Gebote: Ob es sie wirklich gab, werden wir nie erfahren – es ist aber von hohem symbolischen Wert, dass das Christentum auf einem geschriebenen, ja sogar in Stein gemeißelten Gesetz beruht.

Ob die Geschichte mit den Rechtsirrtümern so heute noch passieren könnte, ist aber fraglich. Eher würde man angeschnauzt und nicht für voll genommen. Dank der Digitalisierung kann ja heute jedermann seine geistigen Ergüsse im Blogformat in das Internet hineinkippen und es wird immer schwieriger, aus der Masse an Informationen, die relevanten, gemeißelten, wahren herauszufiltern. Vielleicht ist das auch die Rache der Wörter dafür, dass mit ihnen so oft Schindluder getrieben wird.

Foto: explosion von Flickr-User asecondhandconjecture (unter CC BY 2.0)

Zum Tod von Urs Widmer

Es war vor ein paar Jahren, vielleicht 2011 oder 2012, genau erinnere ich mich nicht mehr daran. Wir gingen raus, wie wir das immer so tun. Helga und Sybille waren dabei und Gregor hatte seinen Schokoladenkuchen mitgebracht, den er Mal für Mal immer wieder versucht an den Mann zu bringen, meistens jedoch vergeblich.

So oder so ähnlich beginnen die Romane Urs Widmers – meistens natürlich besser und nicht so vermessen, der Stil lässt sich ja schlicht nicht kopieren. Und doch würde man sich jetzt wünschen, dass es jemand könnte: Anfang April ist der Schweizer Schriftsteller im Alter von 75 Jahren in Zürich gestorben. „Sprachmagier“ oder „Wortzauberer“ wird er nun in den unzähligen Nachrufen genannt und irgendwie ist das auch sehr zutreffend.

Mir fällt jedoch zuallererst meine eigene und einzige Begegnung mit Urs Widmer ein. 2011 oder 2012 war es, auf dem Literaturfest in München. Im Hauptgebäude der Universität am Geschwister-Scholl-Platz wurde regelmäßig zu Podiumsdiskussionen mit acht bis zehn Personen geladen, darunter Schriftsteller, Literaturwissenschaftler oder auch nur erzürnte Vertreter verschiedener kultureller Verbände. Die Zukunft der Literatur, vorrangig der deutschen natürlich, sollte verhandelt werden, denn diese, so hörte man es allenthalben rufen, befinde sich am Abgrund. Langweilig und farblos sei sie, niemand traue sich mehr irgendetwas zu und teilweise sei dies für die armen Kritiker schwer zu ertragen.

Von den Literaten erhoffte man sich innerhalb von jeweils einer Stunde eine Lösung dieses Problems. Die Autoren ihrerseits fanden sich auf der Anklagebank wieder und sollten innerhalb von jeweils einer Stunde die deutsche Kultur rehabilitieren. Ein schwieriges, ja ein ummögliches Unterfangen – folglich war es nur verständlich, dass die Autoren auf Nebenschauplätze auswichen und sich mitunter selbst bekriegten. Der Tenor: Ich kann ja auch nichts dafür, aber immerhin mache ich die Situation nicht noch schlimmer wie etwa Kollege XY.

Darüber stand nun Urs Widmer. Sinnangebote wollte er nicht machen, auch keine Erklärungsversuche unternehmen. Stattdessen tat er das, was er am besten kann: ganz devot und simpel Erzählen. Mit Anekdoten machte er die schwierige Arbeit des Schriftstellers anschaulich. Ein Leser hatte beispielsweise den Verlag auf Schadensersatz verklagt, weil er sich als Hauptfigur eines Widmer’schen Werkes wiederfand. Um die Streitigkeiten beizulegen, musste der Autor den Vorwurf akzeptieren. Dabei war alles nur Zufall gewesen: „Heute kann ich es ja sagen: Ich kenne den Mann nicht!“

Widmer hatte Freude am Erzählen, das konnte man deutlich erkennen. Und die Witzchen und Schilderungen wuchsen über sich hinaus, sie wurden zur Antwort auf die fatalistischen Thesen der Literaturkritik. Sie machten deutlich, dass gegen die Verzweiflung an der mutlosen zeitgenössischen Literatur eben kein Kraut gewachsen ist. Keine Podiumsdiskussion und keine noch so große Anstrengung kann das Problem der Kritiker lösen, deren Tätigkeit ohnehin professionelle und institutionalisierte Unzufriedenheit verlangt.

Die Diskussion kommt immer schon zu spät und ist auch nicht der Ort für groß angelegte Rettungsprojekte, das hat Urs Widmer an diesem Tag gezeigt. Die Antwort lässt sich allein literarisch geben, mit immer neuen Geschichten, Erzählungen, Anekdoten und Wendungen. Unser Verlangen danach, die Nachfrage, ist ungebrochen hoch. Das Angebot jedoch ist nun, mit dem Tod des Schweizers, ein gutes Stück ärmer.

Bild: Urs Widmer 2012, bei der… Wikimedia Commons-User dontworry (unter CC BY-SA 3.0, zugeschnitten und bearbeitet von mir)