Leyla und das Nachwort im Kopf

Manchmal trägt man Bücher mit sich herum wie uneingelöste Versprechen. Man fängt an zu lesen. Und hört wieder auf. Etwas kommt dazwischen, man gerät aus dem Fluss. Und dann schrecken einen die 600 Seiten wieder ab. Nach drei Monaten ein neuer Versuch. Aber man schafft den Anschluss nicht, man fängt von vorne an. Und hört wieder auf.

Auf Facebook posten Menschen ihre Lese-Competitions. Ende Juni heißt es stolz: Wow, I’ve mastered 40 books this year. Und selbst reißt man sie immer wieder, diese Hürde. Ein merkwürdiges Phänomen stellt sich ein: ein schlechtes Gewissen gegenüber den Figuren. Den Schriftstellern kann es egal sein, wenn man sie nicht liest, die Bücher sind ja bezahlt. Aber was sagt Leyla dazu, die Protagonistin aus dem gleichnamigen Roman von Feridun Zaimoğlu? Ihr Schicksal ist schwer genug. Und dann schaue ich auch noch weg – weil irgendwas dazwischen kommt? Ach Leyla, verzeih mir…

Der Literaturwissenschaftler dagegen sagt: Was sollen sie schon sagen? Nichts sagen sie. Sie existieren ja nicht wirklich, nur auf dem Papier. Bloße Textkonstrukte, das sagt schon das Wort: Figur, von lateinisch figura – Gestalt, aber auch von fingere – vortäuschen. Es hat keinen Sinn, wenn man Worte auf Papier behandelt wie wirkliche Menschen. Zwar ist es nicht unwahrscheinlich, jemanden wie Leyla zu treffen. Und Zaimoğlu hat sich beim Schreiben sogar an seiner Familie orientiert. Und trotzdem: Leyla ist nicht weniger ausgedacht als Alice im Wunderland oder Frodo Beutlin.

Aber man kommt nicht dagegen an, der Verstand füllt die Leerstellen auf. Die Figuren purzeln aus den Büchern, klopfen sich den Staub von den Kleidern. Eine neue Geschichte entsteht. Und wenn man dann noch mehrere Bücher gleichzeitig nicht liest, wird es richtig interessant. Zum Beispiel Truman Capotes Grasharfe und Langer Samstag von Burkhard Spinnen. Dann treffen sich die Hauptfiguren und halten Kaffeekränzchen ab. Leyla, Collin Fenwick und Ulrich Lofahrt plaudern bei gedecktem Apfelkuchen und teufeln auf den faulen Leser ein. Schlimm, dass er es nicht packt, sagt Lofahrt. Collin ist merkwürdig still. Und Leyla gibt die Hoffnung nicht auf.

Ob er es jemals packt? Es ist ein Nachwort im Kopf, ein Drama: manchmal ein Trauerspiel, manchmal eine Komödie. Wissenschaft ist das nicht. Man könnte sagen: Es ist ein Freundschaftsdienst an einer Handvoll Worten. Und damit Quatsch, sicherlich. Aber es ist Quatsch, der einen inniger lesen lässt als die Werkzeuge der LW. Mit den Mikroskopen, Bohrern, Zoom-Objektiven aus dem Lehrbuch bringt man meistens etwas zutage. Aber dem Text und seinen Figuren gegenüber verpflichtet fühlt man sich dadurch nicht.

Im Übrigen: Ich habe es dann doch geschafft. Alle drei. Und ich bin sicher: Selbst wenn nicht, gelästert hätten sie trotzdem niemals. Das hätten sie nicht übers Herz gebracht.

Bild: El sueño de la razón produce monstruos (Francisco de Goya)

Das Ende der „Adventures“

Geschichten zu erzählen, ist ein Erfolgsmodell. Alle lieben sie, sie ziehen uns in ihren Bann. Und manchmal sind sie so erfolgreich, dass sie das Prinzip des Erzählens selbst zerstören.

 

Es geht um Adventures. Aber der Reihe nach. Was ist das überhaupt, ein Adventure? Es gibt viele Definitionen. Eine ist: Ein Adventure ist ein Genre von Computerspielen, in denen man eine Geschichte miterlebt, den Helden/die Heldin steuert. Mit der Maus sucht man den Bildschirm ab und sammelt per Klick Gegenstände ein, kombiniert sie oder spricht mit Personen, um Informationen zu kriegen. Wichtig ist dabei: Es ist keine Geschicklichkeit nötig.

 

Dadurch grenzt sich das Adventure von Shootern oder traditionellen Jump&Run-Spielen ab. Adventures halten einen bei der Stange. Nicht, weil man endlich ein schwieriges Level geschafft oder einen Zwischenboss besiegt hat. Man bleibt dabei, weil man wissen will: Wie geht die Geschichte weiter?

 

Die Entstehung dieses Genres ist eng mit der Firma LucasArts verbunden, quasi ab der 1980er Jahre das Apple der Adventure-Industrie, nur cooler und nicht so milliardenschwer. Selbst die schlechtesten Spiele von LucasArts waren der Konkurrenz immer um eine Nasenlänge voraus.

 

Und die Besten? Sind heute noch unerreicht und stilprägend. Da ist zum Beispiel Monkey Island, das als Inspiration für die Filmreihe Fluch der Karibik gedient haben muss. Da sind Grim Fandango, Day of the tentacle und Sam&Max. Wer Lust auf Geschichten hatte, bekam von LucasArts schräge Charaktere in noch schrägerer Szenerie geliefert. Und einen riesigen Zitatenschatz, aus dem sich die Spieleindustrie bis heute bedient.

 

Und trotzdem: Das Genre ging unter. Nie wieder kam ein Spiel an diese frühe Blütezeit heran. Warum ist das so? Warum wendeten sich die Leute von den tollen Geschichten ab und hirnlosen Schießereien zu? Diesen Fragen geht Ian Danskin in seinem sehr sehenswerten Video Who shot Guybrush Threepwood? nach.

 

 

Die Antwort, kurz und knapp: Shooter wurden interessant, weil sie durch bessere Technik besser wurden. Für Adventures änderte sich durch bessere Technik nie etwas Grundlegendes. Sie entwickelten sich nicht. Sie blieben einfach gleich.

 

Das ist natürlich schade, aber es ist auch tröstlich. Denn Adventures entwickelten sich natürlich nicht, weil sie es nicht mussten. Ihr Prinzip war seit jeher das ausgereifteste: Was gibt es Schöneres für Menschen als eine spannende Geschichte? Daran lässt sich nicht rütteln. Die 3D-Shooter konnten sich entwickeln, weil sie eben Entwicklungspotenzial hatten.

 

Das Problem ist nur: So gut wie alle Computerspiele arbeiten heute narrativ. Früher reichte die Aufforderung „Verteidige deine Stadt gegen Aliens!“ und schon hüpfte man grobe Pixelhaufen kaputt. Heute braucht es bessere Rechtfertigungen. Stupides Münzeneinsammeln motiviert niemanden mehr. Menschen wollen Geschichten. Shooter wie Mafia und GTA sind aufwendig inszeniert, wie Kinofilme. Und am deutlichsten macht das ein Spiel wie Thomas was alone. Eigentlich ist es ein banalas Hüpf- und Knobelspiel. Die Protagonisten sind geometrische Formen, erhalten aber Eigenschaften und Persönlichkeiten und interagieren miteinander. Mit einer Geschichte werden eben selbst Rechtecke interessant.

 

Wer früher eine gute Geschichte am PC erleben wollte, musste auf Adventures zurückgreifen. Sie hüteten das Privileg des Geschichtenerzählens. Doch heute ist ihnen das abhanden gekommen. Menschen wollen Teil einer Geschichte sein und heute sind sie das in allen Computer- und Konsolenspielen.

 

Sich bei anderen Künstlern oder Werken umzuschauen und das beste für sich zu übernehmen und neu zu kombinieren: Das ist eine Technik, die sich in allen Künsten schon immer bewährt hat. Adventures reagieren ja in gleicher Weise. Meistens bedienen sie sich aber im Actionlager. Das misslingt meiner Meinung nach. Es sorgt nur für kurzen Nervenkitzel, ersetzt aber nicht den Reiz einer sorgsam strukturierten, gut erzählten Geschichte.

 

Dear Esther etwa ging ganz neue Wege. Das ist doch langweilig!, sagten viele. Naja, vielleicht. Eine ganze Kulturform neu zu beleben und zu reformieren, ging ja noch nie über Nacht.

Schön gesagt, Herr Seibt

„Das Charakteristische an der Schrift ist, dass sie linear und logisch voranschreitet, dass aber niemand am Satzanfang sagen kann, was am Satzende kommt. Lesen ist ein ähnliches Vergnügen wie Achterbahnfahren: Man gleitet auf Schienen voran und plötzlich geht es rund. Und auf Vergnügen hat noch kein Mensch verzichtet, indem noch ein Hauch von Kind lebt.“

Quelle: Constantin Seibt: Kurze Theorie der Leser, dieser Bastarde
Bild: Rollercoaster Tracks von ZakVTA (cc by-nc-sa 2.0)

Lewis Carroll und seine hoffnungslose Mission

Kein Mensch versteht ja mehr Philosophie. Bzw. jeder hat ja heute eine eigene. Früher hat man das von Experten machen lassen: Kant, Hegel, Nietzsche – Namen wie Donnerhall. Heute kann man denen nichts mehr abgewinnen. Jede Zeit hat die Philosophen, die sie verdient, und die Philosophie des 21. Jahrhunderts ist wohl eine Mischung aus Fußballtaktik und simplen Lebensregeln (“Kein Bier vor vier!” oder “Nicht alles durcheinander trinken, das ist meine Philosophie.”).

Dass es nicht so weit kommt, dafür hatte einer einmal alles versucht: Charles Lutwidge Dodgson, oder – wie er sich auch nannte – Lewis Caroll, besser bekannt als Autor von Alice im Wunderland. Er war sehr zurückhaltend und blühte nur so richtig auf, wenn er mit Kindern zu tun hatte – so albtraumhaft die Alice-Bücher an manchen Stellen auch sind.

Warum? Dodgson lag sehr viel daran, dass schon Kinder sich mit Logik beschäftigen, seiner Leidenschaft. Darum schrieb er das Spiel der Logik, eine Mischung aus philosophischem Lehrbuch und Brettspiel. Das Buch beschäftigt sich nicht mit dem, was landläufig unter „Logik“ firmiert („Wenn du dein Auto hier parkst, brauchst du dich nicht wundern, wenn du einen Strafzettel kriegst!“), sondern mit klassischer Logik, also Präpositionen, Implikationen, logischen Schlussweisen und einfachen Syllogismen. Wer als Erwachsener das Buch mal in die Hand nimmt, stößt auf Sätze wie den hier:

„Alle xm sind y“ enthält „Einige xm sind y“, was „Einige x sind y“ enthält. Oder, in Worten ausgedrückt, „Alle regnerischen Tage sind ermüdend“ enthält „Einige regnerische Tage sind ermüdend“, was „Einige Regenperioden sind ermüdend“ enthält“

Tja. Selbst wer kein Logikstudium hinter sich hat, kann das mit mehr oder weniger großem Aufwand verstehen. Aber der Satz steht ziemlich am Anfang des Buchs. Und das, man kann es nicht oft genug wiederholen, war für Kinder gedacht.

Logik für Kinder? Ist das nicht etwas weltfremd? Immerhin ist es sympathisch: mal ein Philosoph, der ein Buch für Kinder schreibt. Wie schön, dass Caroll das getan hat, und nicht etwa Hegel oder Jürgen Habermas. Und vielleicht liegt es auch an den heutigen Erwachsenen. Vielleicht sind die müde geworden im Kopf, zu faul. Vielleicht versuchen sie gar nicht mehr, Gedanken zu verstehen, die ein bisschen komplizierter sind als üblich. Und obendrein sehr nützlich. Denn wer sich mit Logik beschäftigt, hat etwas davon:

„Bändige einmal die Maschinerie der Logik und du hast stets eine geistige Aufnahmefähigkeit von faszinierender Intensität zur Hand, die dir bei jedem Thema, dem du dich zuwendest, wirklich nützlich sein wird.
Sie wird deinen Gedanken Klarheit verschaffen – die Fähigkeit durch Wirrnis deinen Weg zu sehen – die Gewohnheit deine Gedanken in einer methodischen und verständlichen Form zu ordnen – und, wichtiger als alles andere, das Vermögen Trugschlüsse nachzuweisen und die dürftigen unlogischen Argumente, auf die du unaufhörlich in Büchern, Zeitungen, Reden und sogar in Moralpredigten treffen wirst, in Stücke zu reißen…“

Wer weiß. Dodgson war womöglich weltfremd, eventuell auch nur verschusselt oder pentrant. Aber er war es aus einem Glauben an das Beste in den Menschen. Und da hielt er sich nicht mit Erwachsenen auf. Die konnte man eh schon abschreiben.

So haben das nicht viele gesehen. Bei einem Urlaub am Meer nervte Dodgson die Tochter eines Bekannten mit dem Spiel der Logik. Irene Barnes hieß sie und war damals 15. Später wurde sie Schauspielerin und sagte dann über den armen Dodgson (der es ja nur gut gemeint hatte):

„Er empfand eine tiefe Liebe zu Kindern, aber ich glaube, er verstand sie nicht besonders.“

Das, aber, ist natürlich falsch.

Bild: Alice’s mad tea party von John Tenniel

Goethe und der Islam: West-östlicher Diwan

Gehört der Islam nun zu Deutschland? Die Muslime? Der Koran? Das Kopftuch? Und wenn ja, wie weit, und welcher Islam genau, welche Richtung? Und wenn nein: warum nicht, inwieweit nicht und inwieweit vielleicht nicht etwa doch? Kann das alles nicht endlich mal geklärt werden, ein für alle Mal?

Goethe hat sich solche Fragen bestimmt nie gestellt. Sein Zugang zur islamischen Welt war ein anderer. 1814 las er (auf Deutsch) den Diwan des persischen Dichters Ḫāǧe Šams ad-Dīn Moḥammad Ḥāfeẓ-e Šīrāzī, kurz: Hafis. “Diwan”, das bedeutet Sammlung von Gedichten, Versen und Texten – und der von Hafis muss den schon etwas älteren Goethe ziemlich beeindruckt haben.

Denn der setzte sich hin und schrieb wiederum den West-östlichen Diwan, eine Hommage an Hafis. Darin setzt er sich mit dem Islam, mit islamischer Weltsicht und orientalischer Kultur auseinander. Das lyrische Ich nimmt eine muslimische oder muslim-nahe Haltung ein, diskutiert Sätze aus dem Koran oder andere Lehrsprüche. Dazu gibt es Dunkles, Mystisches, historische Einlagen, Parabeln und Erotik. (Bei dieser Zusammenfassung rotiert MC Goethe bestimmt im Grab, aber mehr will und kann ich an dieser Stelle nicht liefern. Ich empfehle ja, den Diwan selbst zu lesen.)

Die bekanntesten Verse kennt man heutzutage vor allem aus Leitartikeln großer Tages- und Wochenzeitungen. Sie lauten:

„Wer sich selbst und andere kennt,
wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
sind nicht mehr zu trennen.“

Dann wäre dieser Fall also geklärt? Hm. Dass Orient und Okzident zusammengehören, wird nicht automatisch zur Tatsache, nur weil Goethe das sagt. Man findet ja zu jeder Meinung einen, der sie vertritt. Goethe vertrat seine zwar meistens wortgewaltig und schön. Aber geklärt ist damit nichts.

Die Antwort bleibt also wieder einmal aus. Aber Goethe soll trotzdem als interessantes Beispiel herhalten, wie man seine Zeit besser nutzen kann. Er setzte sich nämlich nicht hin und überlegte erst einmal, ob dieser Islam, von dem er da las, überhaupt nach Deutschland passte. Ob die Leser bereit dafür seien. Und ob das denn wirklich nötig sei, dass man dem Fremden Tür und Tor öffne, ja, brauche es das denn, das Fremde auch noch auf ein Podest zu stellen, indem man darüber schreibe?

Natürlich gab es kein Deutschland, kein über Jahrzehnte beständiges Gebilde, wie wir das heute kennen. Mit festen Grenzen, innerhalb derer man Hunderte oder Tausende Kilometer rumreisen konnte und dabei auf Menschen traf, die dieselbe Sprache redeten und mit dem gleichen Geld bezahlten. Und die sich kulturell auf einen gemeinsamen Nenner einigten, von Goethe und Schiller bis hin zu Industrie- und Handwerkskammer, Audi, BMW und Popkultur. „Das alles ist Deutschland, das sind alles wir“, sangen die Prinzen ja einmal.

Merkwürdig ist: Je größer und mächtiger eine kulturelle Gemeinde ist, umso größere Angst scheint sie vor äußeren Einflüssen zu haben. Dabei könnte man fragen: Für wie stabil hält man seine eigene Kultur, wenn man glaubt, dass sie so schnell und einfach ausgehöhlt werden kann? Sei es durch Religionen, durch Wirtschaft oder durch neue Technologien.

Die Alternativen sind nicht zwangsläufig „die oder wir“, Islam oder Christentum, Silicon Valley oder deutscher Rechtsstaat. Man kann neugierig sein auf das, was dazwischen liegt, neugierig wie Goethe. Der machte einfach mal. Und merkte: So fremd sind die Welten im Diwan von Hafis gar nicht. Und selbst wenn, kann die Begegnung aufschlussreich sein.

Foto: Goethe von motograf (cc by 2.0)

Ist das noch Brecht?

Der Regisseur Frank Castorf hatte das Stück Baal von Bertolt Brecht am Münchner Residenztheater inszeniert. Baal ist ein junger Dichter, dessen Entwicklung mit dem Ausdruck „auf die schiefe Bahn geraten“ noch milde umschrieben ist. Castorf erweiterte den Dramentext nun, etwa mit Fragmenten des französischen Autors Arthur Rimbaud oder Szenen aus dem Film Apocalypse Now Redux, eine um 50 Minuten verlängerte Version von Apocalpyse Now (1979) von 2001.

 

Durfte er das? Der Suhrkamp-Verlag sagte Nein. Der fungiert als Vertreter der Tochter von Bertolt Brecht, Barbara Brecht-Schall, und wollte dem Residenztheater künftige Aufführungen verbieten. Die Bearbeitung sei nicht autorisiert, hieß es. Vor dem Landgericht einigte man sich dann mit einem Vergleich: Das Residenztheater gibt eine Unterlassungserklärung ab und darf das Stück in der Form noch zweimal zeigen.

 

Warum kann Suhrkamp sich überhaupt beschweren? Im Fall von Brecht ist die sogenannte Regelschutzfrist noch nicht ausgelaufen. Sie gibt an, wie lange die Werke nach dem Tod des Urhebers noch geschützt sind. In Deutschland läuft die Frist am 1. Januar des Folgejahres ab, nachdem 70 Jahre um sind. Brecht starb am 14. August 1956, seine Werke werden also am 1. Januar 2027 gemeinfrei und dürfen dann von jedem genutzt werden, ohne nochmal nachzufragen.

 

Bis dahin haben die Erben auch das Urheberrecht geerbt. Und das besagt: Der Urheber kann darüber bestimmen, ob und wie sein Werk zu veröffentlichen ist. Zudem hat er laut §75 („Beeinträchtigung der Darbietung“) das Recht,

 

„eine Entstellung oder eine Beeinträchtigung seines Werkes zu verbieten, die geeignet ist, seine berechtigten geistigen oder persönlichen Interessen am Werk zu gefährden.“

Bearbeitungen sind zwar erlaubt, erfordern aber eben die Einwilligung des Urhebers (§23). Also ist es für meinen naiven juristischen Blick das gute Recht von Suhrkamp, hier zu klagen. Aus künstlerischer Sicht aber? Könnte das Ansehen Brechts oder des Stücks nachhaltig beschädigt oder sogar zerstört werden, weil ein Hubschrauber mit amerikanischer Flagge auf der Bühne steht? Wer das glaubt, hat anscheinend wenig Vertrauen in Brecht – und mehr Achtung oder Angst vor dem jeweiligen Regisseur. Und das ist, bei allem Respekt vor Frank Castorf, ja nun doch etwas unangebracht.

 

Auch wirkt es auch merkwürdig: Sogar wer mit Theater nichts am Hut hat, könnte in Deutschland schon mal von Frank Castorf gelesen haben. Vielleicht war Suhrkamp zu gutgläubig, denn zunächst gestattete man die Aufführung, kassierte wohl auch Tantiemen für die Premiere. (Nachtrag II: Bei nachtkritik.de gibt es ein ausführliches Protokoll des letzten Prozesstags. Man erfährt auch, wie es zu dem Missverständnis zwischen Verlag und Theater kommen konnte.)

 

Vielleicht war es ein großer Schock, vielleicht auch nicht. Wer weiß, was die Erben dazu verleitet hat. Theater ist ja auch ein hartes Business und Brecht eine Marke mit starkem Kern. Damit der nicht ausfranst, muss die Kunst zurückstecken.

 

Nachtrag: Brecht hätte seine helle Freude an der Inszenierung gehabt, schreibt Alexander Kohlmann für die taz.

 

Bild: Aufnahme von Kiss me Kate, das 2014 im Monomoy Theatre in Chatham in den USA lief (cc by 2.0) – es fungiert als reines Symbolbild für das Theatermachen. Von Brecht nimmt man vorsichtshalber ja nichts…

Auf der Suche nach dem Kunst-Molekül

Es gibt so vieles, was wir nicht verstehen. Warum können ein paar zusammengeschweißte Metallteile mit 200km/h über die Autobahn brettern? Warum kann man mit ein bisschen Plastik und Silizium im Internet surfen? Und warum quietscht die Erdachse nicht, wenn sie doch nie geschmiert wird? Man ahnt, dass mehr dahinter steckt. Aber früher oder später muss man sich damit abfinden: Der eigene Horizont ist beschränkt.

 

Und dann natürlich noch: Wie kommt die Kunst in die Bücher hinein, in Filme, Konzerte und Gemälde? Der englische Fantasy-Autor Terry Pratchett (von dem ich das Erdachsen-Beispiel schamlos geklaut habe) ging dieser Frage nach: 2002 in seinem Buch Der Zeitdieb (im Original The Thief of Time, 2001). Darin versuchen die Revisoren die Menschen zu verstehen. Die Revisoren achten darauf, dass im Universum alle Regeln eingehalten werden. Jedoch: Egal, wie perfekt sie planen – die Menschen machen jeden Plan zunichte. Also versuchen die Revisoren herauszufinden, warum. (Nebenbei planen sie auch, die Menschheit auszulöschen, aber das nur am Rande.) Sie nehmen menschliche Gestalt an und analysieren, warum die Menschen tun, was sie tun. Warum sie essen, schlafen, miteinander plaudern. Oder Gemälde malen:

 

Der Rahmen von etwas, das einmal Sir Robert Spucknapfs Im Fluss feststeckender Karren gewesen war, lehnte vor ihr an der Wand, ohne das Bild. Die leere Leinwand ruhte sorgfältig zusammengerollt daneben. Vor dem Rahmen lagen Pigmenthaufen, nach Größe sortiert. Einige Dutzend Revisoren zerlegten sie in ihre molekularen Bestandteile.

„Noch immer nichts?“, fragte Frau Rötlich-Orange und ging an der Reihe entlang.

„Nein, Frau Rötlich-Orange“, antwortete ein Revisor mit vibrierender Stimme. „Bisher haben wir nur bekannte Moleküle und Atome gefunden.“

„Hat es vielleicht etwas mit den Proportionen zu tun? Mit der molekularen Balance? Der grundlegenden Geometrie?“

„Wir versuchen…“

„Macht weiter!“

Natürlich sind die Revisoren nicht erfolgreich: Sie finden kein „Kunst-Molekül“ und auch kein „Menschlichkeits-Molekül“. Am Ende werden die Wächter des Universums übrigens vernichtet, weil sie vom Leben als Menschen überfordert sind. Es ist nicht die Kraft der Kunst oder sonstiger großer Errungenschaften der Zivilisation, die sie auslöscht. Den weltfernen Revisoren explodieren förmlich die Köpfe, als sie Schokolade essen. Jede Gesellschaft hält sehr viel auf ihre Künstler und Denker, sagt uns Pratchett, aber in Wirklichkeit ist deren Einfluss begrenzt.

 

Das ist eine von Terry Pratchetts Lieblingsbeschäftigungen beim Schreiben: Entlarven und Enttäuschen, und zwar auf humorvolle Weise. 40 Romane hat er bislang geschrieben, die in einer Fantasiewelt, der Scheibenwelt (engl. discworld) spielen. Sie wurden in Dutzende Sprachen übersetzt, über 60 Millionen Exemplare wurden weltweit verkauft. In jedem Roman steht ein anderes Thema im Vordergrund: Zeit, Kunst, Diplomatie, Religion etc. Mich erinnert das an ein anderes Großprojekt, nämlich an Balzacs Menschliche Komödie: 91 Romane, geschrieben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein Panorama der zeitgenössischen französischen Gesellschaft.

 

Einen guten Ruf hat Pratchett in Deutschland nicht. Das liegt zunächst einmal an den bunten Comic-Covern seiner Bücher (siehe auch das Beitragsbild). Hier gilt das als unseriös, als Schund. Dazu kommt, dass in Deutschland die Trennung von „Kunst“ und „Unterhaltung“ viel stärker ist. Unterhaltung, das sind E-Gitarren, Mario Barth und Fußball. Künstler darf sich nur schimpfen, wer Konzertpianist oder Maler ist, oder ein ernst dreinblickender, weißhaariger Opa mit Pfeife. (Nein, Lionel Messi und Zinedine Zidane sind keine Künstler!)

 

Die Engländer lassen dagegen auch Graubereiche zu. Wo gelacht wird, wendet sich der Bildungsbürger nicht angewidert ab. Humor und Hochkultur schließen sich nicht aus. Umgekehrt gilt das genauso: Nicht alles, was ernst daherkommt, ist bedeutungsvoll. Nicht alles, was langweilig ist, ist auch seriös.

 

Die Menschen sind in so vieler Hinsicht beschränkt, Schriftsteller müssen irgendwie mit den menschlichen Schwächen umgehen. Sie können so tun, als käme in den Schwächen eine tiefliegende, philosophische Bedeutungsschwere zu Ausdruck. Tragik, Weltschmerz, Unendlichkeit. Die Menschen verstehen die Welt, in der sie leben, so oft nicht.

 

Die Schwelle zum Banalen ist dann aber schnell überschritten. Nicht hinter allem, was banal ist, versteckt sich eine tiefere Wahrheit. Drum ist es ganz sympathisch, die Schwächen auch mal humorvoll anzusehen. Die Menschheit ist nun mal beschränkt. Wer Terry Pratchett liest, könnte sagen: herrlich beschränkt.

 

Bild: Ausschnitt des Covers zum Zeitdieb von Josh Kirby

Skurrile Fundstücke

Aus der Reihe „Skurrile Fundstücke“. Diesmal direkt aus einem Antiquariat in Vientiane, der Haupstadt von Laos, wo ich letztes Jahr ein paar Tage verbrachte. Die Welt ist ein Dorf.

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Beitragsbild: Leon Ephraim / Unsplash

Die Inszenierung des Jonathan Meese

Kluge Menschen kennen ihre Grenzen, Dummheit dagegen ist unendlich. Das ist das ewige Problem der Menschheit, unzählige Staffeln wurden schon gedreht. In der heutigen Folge krankt daran: Jonathan Meese, Ton-, Video-, Aktions-, Vielseitigkeitskünstler, Bildhauer usw. usf. etc. pp. Bekannt ist er in Deutschland aber weniger für seine Kunst, sondern für seinen Hang zum Hitlergruß. Damit beschäftigt er manchmal die Gerichte, sorgt für ein bisschen Aufregung, aber auch nicht mehr. Alles nur Konzept seiner sogenannten „Erzkunst“, denkt sich der Laie.

Doch nun ist Meese zornig aufgetreten, ja öffentlich ausgerastet, wie die dpa berichtet und man zum Beispiel hier nachlesen kann. Beim Literaturfest in München wollte er über die „Diktatur der Kunst sprechen“ und feuerte zu diesem Anlass mit breitem Geschütz in Richtung Bayreuth, genauer: in Richtung der Wagner-Festspiele. „Ihr seid Kunsthasser“, schrie er und: „[D]as ist alles Richard Wagners überhaupt nicht würdig“. Man habe der Kunst in Bayreuth Hausverbot erteilt. (Wo man bei der dpa noch zögert, manche der Worte Meeses überhaupt zu schreiben, hat der Nordbayerische Kurier das Ganze auf Video.)

Was ist eigentlich passiert? Meese sollte 2016 die Richard Wagners letzte Oper „Parsifal“ in Bayreuth inszenieren. Doch dann wollten die Verantwortlichen doch nicht mehr und beendeten die Zusammenarbeit. Begründet wurde der Schritt damit, dass Meeses Konzept zu teuer sei.

Man weiß ja nicht, was Meese im Sinn hatte, auch über seine Kunst will ich nicht urteilen, da kenne ich mich einfach nicht aus. Aber sein Konzept von einer applauslosen Kunst – würde es einen wirklich wundern, wenn sich Veranstalter eines renommierten Festivals das nochmal überlegen? Zumal das Festival in Bayreuth nicht nur die Werke Wagners aufführt, sondern auch an seine Person erinnert, von der Bedeutung als gesellschaftliches Ereignis der Bundesrepublik ganz zu schweigen. Ein bisschen Applaus dürfte es dann ja doch sein. Meeses Vorwürfe der „Operettisierung“ und „Musicalisierung“ treffen natürlich voll ins Schwarze – und laufen deshalb ins Leere. Man zuckt mit den Schultern und fragt: „Ja, und jetzt?“

Groß inszenierte Kunst verliert die Kunst immer ein Stück weit aus den Augen, groß inszenierte Kunst erstarrt an den Rändern immer zur Konvention. Es verwundert nicht, dass Meese „das Radikale gesucht“ und dann eben nicht gefunden hat. Die Geschäftsführerin der Festspiele, Katharina Wagner, ist für ihn „der größte Feind der Kunst“. Natürlich ist ein Regisseur in Bayreuth nicht so frei wie anderswo, doch ist das kein Geheimnis – zu viel hängt schlicht vom Erfolg der Aufführungen ab. Bemerkenswert ist nur, dass Meese das erst so spät erkennt.

Und dass es ihn so wütend macht. Er selbst wäre „so gerne demütig, wenn man mich nur ließe“. Gleichzeitig schimpft er aber auf den nun bestellten Nachfolger Uwe-Eric Laufenberg, also jemanden, der bisher nicht durch Skandale aufgefallen ist. Obwohl Meese auch in seine Richtung poltert, hält er sich bedeckt.

Es kann sein, dass Meese das Konzept einer absolut reinen Kunst verfolgt, einer Kunst, die sich nicht um den Menschen scheren muss und ihn deshalb tief bewegt. Jedoch ist es naiv zu glauben, man könne dieses Konzept so radikal an einem etablierten Konzerthaus umsetzen. Vielleicht ist Meese in dieser Geschichte das Genie, vielleicht sind die Bayreuther Veranstalter dumm. Aber wenn die Dummen die Kunst nicht verstehen oder die Schönheit nicht sehen, können sie nichts dafür – sie sind ja dumm. Dass sich ein Genie unter Dummen unverstanden fühlt, nun, das wäre nicht tragisch, sondern nur konsequent.

Es läge also an Meese selbst, für seine Vision zu werben – oder seinen Traum einfach woanders wahr werden zu lassen. Wenn die Kunst applauslos ist, braucht sie kein Konzerthaus. Dann kann sie auch im Provinzpfarrsaal oder im Wald stattfinden. Es spricht nicht gerade für Meeses Vision, dass sie sich offenbar nur mit Unterstützung durch den konventionellen Kulturbetrieb verwirklichen lässt.

Und was macht Meese? Ergeht sich in Provokationen, reckt den arm zum Hitlergruß und sagt: „Die letzte starke Inszenierung war Hitler.“ Doch niemand fühlt sich provoziert. Zurück bleibt Ratlosigkeit.

Bild: Knight, Horse and Sword von Hartwig HKD // cc by-nd 2.0