Komm, verzieh dich!

Früher war alles besser und es gab von allem mehr, selbst von der Angst. Das mag sich das arme Gespenst von Canterville aus der gleichnamigen Erzählung von Oscar Wilde denken, denn die US-amerikanische Diplomatenfamilie Otis, die sich neuerdings im alten Schloss gleichen Namens einquartiert hat, lässt sich vom Auftauchen des wandelnden Toten einfach nicht aus der Ruhe bringen.

Wie man sich einem Gespenst gegenüber angemessen verhält, zeigen durch die Bank die alten Europäer: ergraute Damen setzen nie wieder einen Fuß nach Canterville Chase, altgediente Militärs werden wahnsinnig ob der Gräueltaten, Diener kündigen vor Schreck. Die fortschrittlichen, im “republikanischen Geist” erzogenen Amerikaner passen da so gar nicht in das Schema und treiben es noch auf die Spitze, wenn sie der Schauergestalt sogar mit Hilfsbereitschaft begegnen:

„Ich muss Sie schon sehr bitten, verehrter Herr“, sagte Mr. Otis, „die Ketten da ein bisschen zu ölen, und ich habe Ihnen zu diesem Zweck eine kleine Flasche Tammanys Aurora-Schmieröl mitgebracht.“

Vor allem die jungen Otis-Zwillinge treiben ihre Späße mit dem Geist, sodass dieser sich schmollend in seine Gemächer zurückziehen muss.

Die Geschichte einzig und allein als eine zu lesen, in der der stupide europäische Aberglaube zur Schau gestellt und lächerlich gemacht wird, würde ihr bei Weitem nicht gerecht. Zu überzogen, übertrieben und manchmal auch selbstgerecht stellt Oscar Wilde die amerikanische Bodenhaftung dar. Obendrein zweifelt selbst die Diplomatenfamilie zu keinem Zeitpunkt daran, dass das Gespenst überhaupt existiert. Die Frage ist also nicht, welche der beiden Parteien recht hat – gibt es Übersinnliches oder nicht? – sondern vielmehr, wie man in unserer fortschrittlichen Zeit mit dem letzten Rest Unerklärbarkeit umgehen kann.

Man kann sich vielleicht über das lustig machen, was man nicht erklären kann, existieren kann es aber trotzdem. Der Umgang, den Wilde vorschlägt, ist eigentlich sehr sympathisch: Diplomatentochter Virginia erbarmt sich. Sie schenkt dem Gespenst ihre Tränen und verhilft ihm damit zum langersehnten Schlaf. Selbst durch technischen und gesellschaftlichen Fortschritt verschwindet das Übersinnliche nie aus unserer Welt – es schläft allenfalls und blitzt von Zeit zu Zeit hervor.

Foto: Mattis Folkestad (Die Band Ghost auf dem Øyafestivalen 2011 in Oslo – unter CC BY-NC-SA 2.0)

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