Im Osten nichts Neues: The Sorrow of War

Dann und wann amüsiere und ärgere ich mich über die hohlen Feuilleton-Floskeln, die oft ja nicht nur das Denken beim Lesen vereinfachen, sondern einfach ganz ersetzen sollen. Was macht man aber nun mit solchen Fundstücken?

‚Kien, why don’t we forgive them for now and send them to our superiors to decide?‘
Kien turned. It was Cu. Kien burned with anger and he let fly in fury, sticking his gun into Cu’s mouth. ‚If you want to show your love for them go stand in the line with them. I’ll kill you too! You too!‘

Es stammt aus aus dem Roman Thân phận của tình yêu des vietnamesischen Autors Bao Ninh aus dem Jahr 1990, den ich in der englischen Übersetzung (The Sorrow of War, 1994) gelesen habe. (Der Vollständigkeit halber: Die Leiden des Krieges, 2014). Bao Ninh beschreibt autobiografisch die Erlebnisse von Kien, der im Alter von 17 auf der Seite der Kommunisten in den Vietnamkrieg zieht – und nach dem Sieg zermürbt und traumatisiert zurückkommt und seine Erfahrungen aufschreibt.

Ich komme nicht drum rum, Szenen wie die eingangs zitierte eindrücklich zu nennen und vielleicht sogar von einer besonderen Sogwirkung zu sprechen. Oder anders herum: Wenn jedes zweite Buch von der Kritik mit den gleichen Floskeln bedacht wird und minutiös seziert, wie beschreibt man dann ein Buch, das, nun ja, wirklich eindrücklich ist?

Und die zitierte Szene ist bei Weitem nicht die eindrücklichste. Bao Ninh hat den Krieg eben selbst miterlebt, und er schafft es, seine Erlebnisse aufs Papier zu bannen. Seite für Seite begegnet einem der Schrecken und die Sinnlosigkeit des Krieges in The Sorrow of War, dass man nur noch schluckt. Alle vermeintlich klugen Gedanken, die man beim Lesen so fasst, verpuffen Sekunden später als gemeine Banalitäten. Das „Im Westen nichts Neues Asiens“ war in Vietnam bis in die 2000er hinein verboten – und doch prägend für eine ganze Generation.

Einer Frage will ich aber nachgehen, nämlich der, ob The Sorrow of War eher als Roman oder als historisches Dokument zu lesen ist. Ohne die ureigensten Erfahrungen des Autors hätte es nie geschrieben werden können. Ist es also gar kein Roman, keine Literatur, sondern nur ein historisches Dokument?

In der Poetik von Aristoteles findet sich hierzu ein berühmter Satz, der in den Ohren von Germanistikstudenten klingt wie ein Fuchsschwanz durch Styropor. Dem Surren eines Zahnarztbohrers gleich fährt er ihnen durch Mark und Bein, dass sie manchmal sogar wütend werden. Handgreiflichkeiten sind mir nicht überliefert, es würde mich aber nicht wundern. Aristoteles sagt, es sei nicht Aufgabe des Dichters,

„mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte“

Darin unterschieden sich eben Dichter und Geschichtsschreiber. Aristoteles hat noch einiges mehr zu diesem Gegensatz geschrieben, aber dieser Satz hallt am lautesten nach. Die Mitternachtsformel der Literaturwissenschaft.

So einfach ist es dann aber meist doch nicht: Die Grenzen zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung verwischen, nicht umsonst nennt Goethe seine Memoiren Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Wer mit Texten arbeitet, bedient sich aus der Werkzeugkiste der Literatur. Man pickt sich hier, wo alles erlaubt ist, das raus, was man brauchen kann. Journalisten beobachten Details wie Flaubert, Werbetexter orientieren sich an kraftvollen expressionistischen Sprachbildern, Redenschreiber lesen Cicero oder Rocko Schamoni.

Umgekehrt bedienen sich auch literarische Werke in der „echten“ Welt, historische Romane zum Beispiel. Der Name der Rose ist auch deshalb so überzeugend und stimmig, weil darin einfach die meisten historischen Daten stimmen.

Auch Ninh tut beides. Die schrecklichen Szenen hat er selbst erlebt oder sich von Augenzeugen berichten lassen. Insofern ist er Chronist der Ereignisse. Aber einen weitaus größeren Teil des Buches geht er der Frage nach: Wie kann ein einzelner Mensch weiterleben? Nachdem er am einen Tag die Schule beendete und am nächsten lernen musste zu töten? Wie können die vollkommen traumatisierten Menschen, zerstritten und verfeindet, nach dem Krieg wieder zueinander finden?

Das ist das Könnte, das Ninh beschreibt. Seinen Protagonisten lässt er die Geschichte aufschreiben, um die Erinnerung zu bewahren. Keine leichte Aufgabe, vielmehr eine, die ihn beutelt und zu zerreißen droht. Die Rückkehr zum Alltag scheint nach dem Krieg unmöglich. Das spiegelt sich bereits im Originaltitel wider. Der bedeutet wörtlich übersetzt „das Wesen/Schicksal der Liebe“.

Bild: Sunset on Ha Long Bay // cc by-nc-sa 2.0

Vom Erzählen des Erzählens

Schriftsteller haben Macht über ihre Leser. Natürlich erzählen sie in erster Linie Geschichten, doch dann beschreiben sie auch wieder seitenweise einen Holzstuhl oder lassen sich über die Natur des Staubs aus. Sie schmücken detailreich aus, obwohl viele der Details irrelevant für die Handlung sind. Sie schaffen Spannung. Sie schüren Erwartungen und wenn sie sie enttäuschen, sind meistens auch die Leser enttäuscht. Man merkt daran, dass Texte mehr sind als die in ihnen erzählte Geschichte.

 

Deutlich wird das zum Beispiel bei Clemens Brentano, einem der bekanntesten deutschen romantischen Autoren. Um die Jahreswende 1800/1801 erschien der erste Band seines Romans Godwi. In der Originalausgabe heißt es auf Seite 266:

 

„Ich stürze in den Teich.“

Im zweiten Band stößt man später auf folgenden Satz:

 

„Dies ist der Teich, in den ich Seite 266 im ersten Bande falle.“

Und ist nun erst einmal irritiert. Eigentlich weiß man ja, dass es sich nur um Wörter auf Papier handelt. Trotzdem liest man nie nur mit, sondern erlebt das Gelesene direkt mit und nimmt es oft mit vielen Sinnen wahr. Oder man tut zumindest so oder redet es sich ein. Sätze wie der oben genannte unterbrechen jedoch diese Illusion, egal ob sie von einer Figur der Erzählung oder vom Erzähler selbst geäußert werden. Mit einem Mal dringt der Autor, dringt Brentano selbst in seinen eigenen Roman ein und reißt den Leser ruckartig aus der Illusion. Auch der fiktive Erzähler verfügt offenbar über den real vorliegenden ersten Band des Romans und las wohl beim Schreiben des zweiten Bands darin. Man beginnt, darüber nachzudenken – und entfernt sich immer weiter von der eigentlichen Geschichte. Dabei war es doch gerade noch so schön. Was also soll so etwas?

 

Nun hat Brentano in einem Brief an Achim von Arnim zwar geschrieben:

 

„Im Godwi steht mein Schicksal laut geschrieben,… aber ich finde auch drin, daß das ganze Buch keine Achtung vor sich selbst hat,…“

Doch den Godwi einfach als schlechtes Buch abzustempeln, funktioniert auch nicht. Schließlich passiert dergleichen in vielen anderen Werken, immer und überall. Man muss Godwi nicht mögen, nicht aber aus dem Grund, weil er hier als vollkommen willkürliches Beispiel herhalten muss. Die geschilderte Stelle ist ein Beleg für das Mehr, aus dem Texte außer ihrem Inhalt noch bestehen.

 

In einem Roman ist nicht eine Welt abgebildet, die es so oder so ähnlich geben könnte, sondern es gibt eine zwischengeschaltete Instanz. Der Erzähler erzählt lediglich von dieser Welt, die es so oder so ähnlich geben könnte. Und dieser Erzähler kann auch beschrieben werden, z. B. durch seinen Kontakt mit anderen Figuren der Erzählung – sofern er selbst Teil davon ist. Nimmt er dagegen nicht am Geschehen teil, charakterisiert er sich selbst, z. B. durch kleine kommentierende Einschübe. Ist etwa von einem „lächerlichen Kleid“ die Rede, trägt selbst ein einzelnes Wort wie „lächerlich“ zur Charakterisierung bei. Es wird schließlich etwas über den persönlichen Geschmack des Erzählers ausgesagt.

 

Auch kann der Erzählvorgang selbst kann charakterisiert werden, mal ausdrücklich, mal implizit. Der Erzähler kann ihn beispielsweise rechtfertigen: „Ich erzähle das, weil ich will…“ Oder er kann abschweifen und etwa philosophische Überlegungen zur Natur des Erzählens selbst anstellen („Immer wenn ich Geschichten wie diese erzähle…, geht es Ihnen nicht manchmal auch so?“). Mal wird auch der Prozess des Erzählens kommentiert („wie wir noch wissen“, „ich wiederhole noch einmal“ etc.) oder der Leser wird immer wieder als solcher angesprochen. Ein Erzähler hat unzählige Möglichkeiten, auf sein eigenes Erzählen einzugehen und es zu beschreiben, ohne die Handlung der eigentlichen Geschichte weiterzuspinnen.

 

Mal ist es dabei noch nicht einmal klar, welcher Redeanteil dem Erzähler zuzuschreiben ist und welcher den Figuren. Manchmal könnte man diskutieren, wem einzelne Wörter gehören, zum Beispiel das oben erwähnte „lächerlich“. Schildert ein gefühlskalter Erzähler die arme Figur? Oder hält sich die Figur selbst für lächerlich?

 

Diese Unklarheit darüber, wer nun was geäußert hat, ist schon allein aus ökonomischen Gründen sinnvoll – Bücher würden sonst aufgebläht zu dicken Wälzern. Auf der anderen Seite wird jedes Erzählen so, ob gewollt oder nicht, zu einem Erzählen über das Erzählen. Dadurch erinnern einen Autoren daran, dass Erzählen auch problematisch sein kann. Es ist immer subjektiv, immer ausschnitthaft und kann angezweifelt werden – wer ist schon zu 100 Prozent glaubwürdig? Ein allwissender Erzähler vielleicht? Selbst der findet sich in einer Vermittlungssituation gegenüber dem Leser wieder, aus der er nie ausbrechen kann.

 

Klar könnte man sich darauf beschränken, nur eine Geschichte zu erzählen und viele Autoren tun das auch. Sie berichten aus Ereignissen aus ihrem Umfeld, orientieren sich an realen Tatsachen, die auch der Leser kennt, formen sie um, laden sie sprachlich und ästhetisch auf. Andererseits machen sich viele Schriftsteller auch immer Gedanken, wie sie das am besten anstellen sollen.

 

Dabei gibt es über die Zeiten hinweg immer unterschiedliche Moden. Romantiker wie Brentano wählten durchaus auch mal den etwas direkteren Weg, dem Leser zu zeigen: Vorsicht! Das ist ja eigentlich alles gar nicht echt. Denkt doch mal drüber nach. Oder: Sogar meine Romanfigur hat meinen Roman gelesen. Wer kann schon sagen, was Fiktion und was Realität ist? Die Texte scheinen so kräftig, zauberhaft und bunt, dass eben selbst der Autor mit hineingesogen wird.

 

 Foto: Antonio Litterio // CC BY 3.0

Schön gesagt, Capote

Bald darauf fand ich die Kiesel, sie waren wie Maiskörner oder wie Bonbons. „Nimm ein Bonbon“, sagte ich und bot ihr aus dem Säckchen an. „O vielen Dank“, sagte sie, „ich mag Bonbons, sogar wenn sie wie Kiesel schmecken.“

Aufgeblähte, ausschweifende Formulierungen sind ja an sich nichts Schlechtes. In Journalismus und Wissenschaft sollten sie vermieden werden, in der Literatur stören sie uns weniger. Behäbig könnte man den Stil von Thomas Mann nennen, langsam die Handlung. Und doch können die Ausschweifungen angemessen sein, wenn sie die Texte beleben.

Es geht aber auch umgekehrt. Von zehn beabsichtigten Wörtern können gute Schriftsteller nur eines schreiben und nicht elf (nach Ludwig Thoma). Dann kommt so etwas heraus wie oben, aus der Grasharfe von Truman Capote (Original The Grass Harp, 1951). Eine kurze, einfache Antwort der Tante genügt, um die Beziehung zu ihrem Neffen zu umreißen.

Bild: Textured Grass von Randy McRoberts // CC BY 2.0

Über die Lesbarkeit der Menschen

Markus Morgenroth, Buchautor und ehemaliger Datenanalyst, spricht in einem Interview mit faz.net davon, dass Menschen in der Flut an digitalen Daten verwundbar werden. Seine Aufgabe bei einem externen Dienstleister war es zunächst, unternehmensinterne Vorgänge effizienter zu gestalten, also anhand von Datenspuren beispielsweise Kündigungen vorherzusehen oder Veruntreuungen aufzudecken. Morgenroth:

„Wir haben Menschen lesbar gemacht.“

Doch beim Verfolgen der Datenspuren tauchte schmückendes Beiwerk auf: Alkoholprobleme, Sexualität, Seitensprünge. Der Mensch wird durchschaubar.

„Die Betroffenen wussten häufig nicht mehr, was sie wann und mit wem getan hatten, wenn sie vor Gericht befragt wurden. Wir wussten es aber. Vor Gericht wissen heute andere sehr viel besser über Sie Bescheid als Sie selbst. Daraus folgt eine neue Deutungshoheit über Personen.“

Das ist durchaus richtig und sogar nützlich, wenn es ums bloße Auflisten der Fakten geht. Wer weiß schon noch, was er gestern, zu Ostern, zu Weihnachten gegessen hat bzw. welche Geschenke er zum Geburtstag bekam? Warum sollte man sich das auch merken? Gut, wenn es ein Computer übernimmt.

Zum Problem wird es erst, wenn es um so heikle Sachen wie Gerichtsverhandlungen geht. Dann ist die Deutungshoheit eben eine Position, die verschiedene Parteien mit unterschiedlichen Ansichten einnehmen können. Diese können richtig oder falsch sein, wenn sie auf Daten basieren, argumentieren sie aber vor allem mit Schlüssigkeit. Nach dem Motto „Sonst gehen Sie doch Freitag abends immer zum Squash? An diesem einen verhängnisvollen Tag aber nicht.“

Mit „Menschen werden lesbar“ ist aber eben nicht gemeint: les- und interpretierbar. Sondern: Menschen besser zu kennen und zu verstehen als sie sich selbst. Dabei handeln sie aber eben nicht konsistent, sondern irrational und widersprüchlich. Ein Bildungspolitiker, der sich vehement für das achtjährige Gymnasium einsetzt und seine Kinder privat lieber auf eine Waldorfschule schickt; ein Metzger, der sich privat lieber vegan ernährt; eine Ärztin, die gerne mal eine Zigarette schnorrt; ein 80-jähriger Rentner, der sagt „Heut mach‘ ich mal was Verrücktes!“ – all das gibt es. Und das ist auch in Ordnung. 

Es geht auch gar nicht anders, denn die Welt selbst ist nicht widerspruchsfrei. Was dem einen nützt, schadet dem anderen. Man muss dabei nicht sofort an Ausbeutung und Sklaverei denken, es gilt ja schon im Kleinen: Wo die Ärztin ihre Zigaretten kauft, spielt für sie selbst keine Rolle – für den verschmähten Kioskbesitzer eventuell schon. Zwangsläufig schadet man mit seinem Verhalten anderen, ohne es zu wollen, oder nimmt Einfluss.

Die Gefahr der Datenherrschaft und -hörigkeit ist – neben der Gefahr der unrechtmäßigen Verurteilung einer Person durch Gerichte oder Geheimdienste – die, dass das Verhalten von Menschen nur mehr nach Maßstäben von Konsistenz bewertet wird. Und das wäre langweilig bis gefährlich. Dem begegnen kann man meiner Meinung nach nur mit mehr Irrationalität. Also Cookies aus und öfter mal merkwürdige Suchanfragen in den Cyberspace schicken.

Bild: Wilinckx

Schriftstellerverband klamm

Generell ist ja für Kultur immer zu wenig Geld da und das ist sehr schade. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass jetzt auch  der deutsche Schriftstellerverband knapp bei Kasse ist. So knapp bei Kasse, dass man seine Mitglieder um eine freiwillige Spende von fünf Euro ersucht. Genauere Hintergründe und auch den Aufruf, den Verband doch aufzulösen, gibt es bei welt.de in einem Artikel von Alan Posener. Kurz gesagt: Die Einnahmen werden immer weniger, die entstehende Lücke muss irgendwie aufgefüllt werden.

Wirklich schade, denn waren nicht wirklich viele der Autoren, die heute noch Millionen Bücher verkaufen, zu Lebzeiten häufig pleite oder hatten mit Geldproblemen zu kämpfen? Kafka? Robert Walser? Bukowski? Schiller? Büchner? Paul Auster? Was für eine illustre Runde an genialen Autoren sich da also im Schriftstellerverband versammelt, werden wir leider nie erfahren.

Bild: Der arme Poet von Carl Spitzweg (1839)

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

„So ein bisschen Bildung ziert den ganzen Menschen“, schrieb Heinrich Heine in seinen Reisebildern, die heutzutage natürlich in keinem bildungsbürgerlichen Haushalt in Deutschland fehlen dürfen (ähnlich wie die Bach-Büste auf dem Klavier oder der Klimt-Druck an der Wand). Spotten lässt sich zwar leicht, aber es ist auch was dran. Und sicherlich ist es auch schön und fruchtbar, wenn man mit anderen Menschen über das angelesene, -gehörte oder -gesehene Wissen sprechen kann.

 

Aber es passiert selten genug. Meistens kann man entweder die Bildung nicht anbringen oder man fühlt sich seltsam verloren inmitten ganzer Scharen hypergebildeter Viel-Leser. Lesen ist ein Teufelskreis. Wenn man Gefallen dran gefunden hat, wird man ohne Unterlass daran erinnert, dass man noch viel mehr lesen könnte. Über Literatur und ihre Geschichte Bescheid zu wissen, bedeutet in erster Linie zu wissen, welche Werke man eben nicht gelesen hat.

 

Wie aber damit in gebildeten Kreisen umgehen? Der kluge Student aus der letzten Reihe im Germanistik-Seminar hat Proust, Dante und Cervantes gelesen – und ordnet expressionistische Gedichte im Vorbeigehen in Zusammenhänge ein, die einem noch Minuten vorher selbst gar kein Begriff waren. Sich jetzt melden und fragen, wer die drei sind, und sich damit selbst der Lächerlichkeit preisgeben?

 

Der französische Literaturprofessor Pierre Bayard hat das Problem scharf erkannt und weiß Rat. In Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat (2013) – im Original Comment parler des lieux où l’on n’a pas éte? (2012)schreibt er, dass das „Lesen“ an sich nicht existiere, ja, schlicht unmöglich sei. Schließlich spreche man jeweils nur über seine eigenen, individuellen Vorstellungen eines Werks, die man beim Lesen entwickelt hat. Und unsere Vorstellungen sind notwendigerweise immer unterschiedlich. Letzten Endes ist es also egal, ob man ein bestimmtes Buch gelesen hat oder nicht.

 

Hurra! möchte man da rufen. Endlich kann man sich im intellektuellen Diskurs behaupten. „Proust? Ma oui! Intellektuell ansprechend, aber er ist kein Dostojewski. Seine Charaktere atmen einfach nicht!“ Etc. Bayards Buch ist jedoch mehr als nur Leitfaden für gesellschaftliche Konversation. Es listet keine trickreichen Sprüche auf, damit man im Rede- und Wissensduell ja nicht unterliegt.

 

Vielmehr stellt er ein ganzes System in Frage. Es sollte nicht im Fokus stehen, so viel wie möglich zu wissen – jegliche Versuche in diese Richtung sind eh zum Scheitern verurteilt. Das Sprechen über Literatur oder über Wissen im Allgemeinen sollte mehr sein als eine reine Inventur etwa der Schauplätze oder des Figurenarsenals eines Romans. So eine Bildung kann Heine sicher nicht gemeint haben.

 

Denn Bestandsaufnahme und -verwaltung sind zwar ehrliche und ehrbare Tätigkeiten, doch zieren sie eher nicht. Sich aus dem Bestand die individuell besten Teile herauszupicken erfordert weniger eiserne Disziplin als Lust und Kreativität.

 

Bild: The old library // CC BY-NC-SA 2.0

Was heißt denn hier „kopiert“?

Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei – Original oder Kopie? Das fragt Dannie Jost in einem Blogbeitrag bei der FAZ angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung Südkoreas seit den siebziger Jahren. Das Land, noch vor einigen Jahrzehnten eines der am wenigsten entwickelten weltweit, unternahm dann einen Riesensprung zu einem wohlhabenden Industrie- und Dienstleistungsstaat. Dies gelang ihm vor allem durch das konsequente Kopieren und Adaptieren der Produkte aus den bereits weiter entwickelten westlichen Staaten.

 

Zuerst ist man ja versucht, laut aufzuschreien: Was? Kopieren einfach alles weg? Da saßen jahrhundertelang deutsche Ingenieure dort und haben Modelleisenbahnen, Foto- und Telegraphenapparate entwickelt, gebaut, verbessert, neu entwickelt und wieder gebaut – nur damit dann alles wegkopiert wird? Ohne Danke zu sagen? Sieht man aber mal von der eindeutig fragwürdigen Praxis des Umetikettierens-und-als-eigene-Leistung-Ausgebens ab, ist das eigentlich keine große Sache.

 

Das Kopieren bzw. das „kreative Imitieren“, wie man es auch nennen könnte, ist eine kulturelle Konstante sondersgleichen. Ingenieure kopieren die Natur, Kindern kopieren das Lachen und die Laute ihrer Eltern, Jugendliche die Stars aus der Bravo und die Evolution kopiert die Gene unserer Vorfahren. Ohne Kopie und Nachahmung kommen Gesellschaft und Zivilisation ins Stocken.

 

Sich umzusehen im eigenen Milieu ist also nur folgerichtig und konsequent. Und wenn das eigene Werk dann mehr oder weniger versehentlich doch allzu sehr dem eines Konkurrenten gleichen sollte – na gut, meinetwegen: Dann wird drauflos geklagt, gegengeklagt, Klagen fallengelassen, bis niemand mehr durchblickt. Patentrecht ist eine komplizierte Sache.

 

Und was war nun zuerst da? Das Huhn oder das Ei? Bei Technologien, bestimmtem Gerätedesign oder irgendwie gearteten neuartigen Verkabelungen mag die Frage nach Original oder Kopie relativ klar zu beantworten sein. Fernab davon sieht das wiederum ganz anders aus.

 

Die Wörter „Original“ und „Kopie“ verkomplizieren die Sache sehr. Es wäre praktisch und gut, wenn man die defizitären Kopien immer schön vom edlen Prototyp unterscheiden könnte. Aber nichts wird ja aus dem Nichts geschaffen: Jedes Original ist zwangsweise selbst schon wieder Kopie, da es – so scheint es manchmal – zu jedem Zeitpunkt der Geschichte immer alles schon gab. Und manche Kopie kombiniert Vorhandenes so virtuos neu, dass der Aufwand ungleich größer erscheint als beim Original.

 

Und mit dem sogenannten „geistigen Eigentum“ wird die Sache sogar nochmal eine Stufe schwieriger. Wie immer gilt: Die Grenze zwischen Plagiat und „Original“ oder plumpem Abklatsch und kreativer Neukombination ist nicht so leicht zu ziehen. Das wusste auch schon einer der Urväter der Originalität, einer, der scheinbar origineller war als alle anderen zuvor, der gute Goethe:

 

„Man spricht immer von Originalität, allein was will das sagen! So wie wir geboren werden, fängt die Welt an, auf uns zu wirken, und das geht so fort bis ans Ende. Und überhaupt, was können wir denn unser Eigenes nennen als die Energie, die Kraft, das Wollen! Wenn ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden bin, so bliebe nicht viel übrig.“

Bild: JH Images,co.uk // CC BY-NC-SA 2.0

 

Über die „unrealistische“ Oper

„Wann stirbt er denn jetzt endlich?“ Das fragen manche Menschen, wenn sie in die Oper gehen, und offenbaren einen subtilen zynischen, wenn nicht gar morbiden Charakterzug. Aber davon ab: Es stimmt ja auch. Da wird jemand mit einem Säbel aufgespießt und haucht nicht, wie man das eben erwarten würde, mehr oder weniger würdevoll sein Leben aus, sondern schwingt sich plötzlich zu philosophischen Betrachtungen über den Mord, sein eigenes Leben oder die Natur des Menschen auf. Da ist Platz für großen Hass oder Verständnis für die Opfer, Zukunftsangst, Liebe oder Zuversicht. Und alles noch gesungen.

So ist halt Oper, möchte man sagen, dann geht halt nicht hin. Manchmal macht das aber genau ein Defizit aus. Oper ist weniger wert als andere Kunstformen, weil sie eben eines ist: unrealistisch. Menschen singen nicht, wenn sie tödlich verwundet sind, vor allem nicht so pathetisch. Deshalb ist das alles abzulehnen.

Liegt es vielleicht daran, dass man diesen merkwürdigen Toden in der Oper besonders häufig begegnet? Die Opernhäuser beherbergen schließlich schon seit jeher allerlei Todgeweihte, das große, das größte Drama. Liebe oder Tod, Familie oder Tod, Ehre oder Tod, ach ja, nicht zu vergessen die kombinierten Formen: Liebe und Tod, Ehre und… drunter tun‘s die meistens nicht. Da kann es einen als Zuschauer schon mal überfordern und in der Folge nerven, dass es gar so pompös und merkwürdig ist.

Andererseits: Was an der Oper ist nicht pompös und merkwürdig? Warum stoßen sich die Kritiker gerade an den unrealistischen Sterbeszenen, wenn doch fast jede Unterhaltung gesungen ist? Wenn Menschen belauscht werden, von anderen Menschen, die direkt daneben stehen – und es noch nicht einmal merken? Wenn sich Protagonisten perfekt verkleiden, indem sie sich mal eben einen Schleier überwerfen? Wenn sich Liebespaare in einer Schwülstigkeit anschmachten, dass es sogar Leuten peinlich ist, die am Vortag noch von den Techtelmechteln im BigBrother-Container gerührt waren?

Ich kann nur mutmaßen. Bestimmt hat das mit den Problemen zu tun, eine fünfstündige Aufführung in seine Woche zu integrieren. Oder mit den Berührungsängsten, die es in Deutschland in Bezug auf klassische Musik gibt. Sicherlich nicht zieht jedoch das Argument, die Oper sei unrealistisch und deshalb abzulehnen, langweilig und blöd. Ansonsten wäre nämlich schnell alles blöd: Theater, Film, Musik und auch Literatur.

Alle Kunstformen funktionieren nach bestimmten Prinzipien. Wie sie entstanden sind, lässt sich oft nicht mehr rekonstruieren, aber wenn man sie als gegeben annimmt (also z. B. „Oper = Musik + Gesang + Handlung“), ist es logisch, wenn die Oper im Vergleich zum wirklichen Leben merkwürdig ist. Nur sehr selten sind alle meine Handlungen von einem 40-köpfigen Chor begleitet.

Das verhält sich aber mit allen Künsten so: Literatur ist nicht „realistischer“ und deshalb besser, weil sie etwa sagt, was ist, und Phänomene schildert, die es so auch in der echten Welt außerhalb der Buchdeckel gibt. Allein schon die Zeitgestaltung: Im echten Leben läuft meistens alles hintereinander ab, im Buch dagegen gibt es Sprünge nach vorne, hinten und zur Seite. Und so viele bedeutungsschwangere Symbole wie in literarischen Texten kommen einem im echten Leben doch auch nicht unter. So viele Perspektivwechsel wie eine Filmkamera kann ein Mensch allein niemals leisten. Und überhaupt: Musik? Nichts an der Musik ist echt – sie verweist nur auf sich selbst. Sie kann an Vogelgezwitscher oder einen murmelnden Bach erinnern, aber sie tut nicht mehr. In Musik findet man keine Phänomene des Alltags.

Es gibt noch unzählige Beispiele mehr und niemand stört sich daran. Man kann daran denken, wenn man wieder einmal Zeuge wird, wie sich jemand süffisant über die Oper lustig macht. Das kann man ja, denn jeder darf ja sowieso alles, sofern er mir oder anderen nicht damit schadet. Kunst lässt sich immer schlecht in „gut“ oder „schlecht“ einordnen und der Alltag oder die Übereinstimmung mit ihm sind sowieso immer ein schlechter Maßstab.

Kunst definiert sich eben dadurch, dass sie nicht normal ist, wie die echte äußere Welt. Wäre sie es schon, wäre sie ja Alltag. Und den haben wir ja schon – einfach so. So übertrieben dramatisch jeder Tod manchmal auch erscheint: Wer Oper mag, tut dies nicht trotz der blöden Sterbeszenen, sondern wegen. Aber vielleicht ist das Phänomen auch viel banaler und es handelt sich nur um bloße Prahlerei, die im Gewand des Bildungshasses daherkommt.

Bild: HerrWick // CC BY-NC-SA 2.0

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